Zehn gute Jahre

Ein Roman aus der Zeit vor der Zeitenwende

von Friedrich Haugg

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'Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. Warum sollte auch irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt? Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Russland, noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt. Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.'(Hermann Göring bei den Nürnberger Prozessen)



'Wenn unsere Gegner sagen: Ja, wir haben Euch doch früher die Freiheit der Meinung zugebilligt. Ja, Ihr uns! Das ist doch kein Beweis, dass wir das Euch auch tun sollen! Dass Ihr das uns gegeben habt, das ist ja ein Beweis, wie dumm Ihr seid!' (Josef Goebbels)



Quellen:

Lexikon der Wehrmacht im Internet
Wikipedia und Google für Vieles
Haffners Anmerkungen zu Hitler
Fests Hitlerbiografie
Hitlers Mein Kampf (Originalausgabe von 1935)
Katalog der Großen Kunstausstellung 1938 im Haus der Kunst
Zeitschrift 'Die Jugend' von 1935
Zeitschrift 'Die moderne Frau' von 1937
aus dem Nachlass:
Fotoalben, Karten, Dokumente,Briefe, Orden

Eins

Beim Oberleitner am Ende der Mühlener Bucht, auf der jetzt schon schattigen Terrasse über dem träge glucksenden See, gab es heute wie jeden Tag Renke Müllerin Art und goldgelb glänzende Petersilienkartoffeln, übergossen mit köstlicher, angebräunter Butter. Dazu ließen sie sich ein prickelndes Weißbier servieren. Der Wirt sagte nichts und schmunzelte nur, weil sie sich dieses Jahr so erwachsen gaben.

„Prost Mandi. Ach so, du trinkst ja nicht während des Essens. Ungewöhnlich mild der Abend, oder? Und wie der See duftet“, sagte Fritz und leerte das halbe Glas.

„Mhm“, machte Hermann. Mit vollem Mund klang es wie ein Räuspern. Nachdem das Sezierwerk vollendet war, legte Hermann Gabel und Messer ordentlich auf den Teller, wischte sich den Mund ab und trank das Glas in kleinen Zügen aus. Sie beließen es bei dem einem Bier, weil sie ja noch einiges vorhatten und die Nacht ziemlich lang werden würde, zahlten und wanderten dann im Hochgefühl des Kommenden auf dem waldigen Uferweg zurück zum Campingplatz.

Die wilden, roten Haare von Herrn Jell leuchteten schon von weitem durchs Gebüsch. Ungeduldig stand er neben seinem Fahrrad, das an die Wand des Blockhäuschens, seiner Operationszentrale, gelehnt war.
„Um acht ist hier Zapfenstreich meine Herren und es ist schon fast halb neun. Heute lass ich das noch einmal durchgehen.“
„Jawoll, Herr Jell. Danke, Herr Jell“, sagten sie beide. Herr Jell spürte eine gewisse Unbotmäßigkeit und holte schon Luft, wendete sich aber dann kopfschüttelnd ab, verschloss umständlich die rot-weiße Schranke, prüfte das Schloss noch einmal und schwang sich dann auf sein Rad.

„So geht das aber nicht, meine jungen Herren.“

Herr Mahlmann tauchte plötzlich und lautlos hinter einem Busch auf.

„Sie wissen doch, dass man nachts nicht mehr hinausfahren darf.“

Wer sagt das, dachte Fritz und spürte den Wunsch, ihm ordentlich herauszugeben. Allerdings war Herr Mahlmann schon fast fünfzig und machte hier schon seit zwanzig Jahren regelmäßig im August für vier Wochen Urlaub. Er hatte sich die Autorität erarbeitet, in Abwesenheit von Herrn Jell über die nächtliche Ordnung zu wachen.

„Wir machen nur noch unser Boot sauber. Wir sind dann auch ganz still“, versuchte es Fritz. Es klappte.

„Na dann, gute Nacht, Jungs und macht keinen Scheiß.“

Er ging leise weiter. Schließlich war der Platz recht weitläufig und viele der Gäste waren verdächtig, die Regeln zu verletzen. Dem selbst ernannten Obernachtwächter Mahlmann war entgangen, dass sich die 'Jungs' in feinen Zwirn gekleidet hatten, zur Bootsreinigung nicht gerade die passende Gewandung. Über der hirschledernen, kurzen Hose mit den bestickten Hosenträgern trugen sie einen hellgrauen Strickjanker mit silbernen Knöpfen. Das weiße Hemd mit dem roten Tüchlein passte bestens zu den strahlend weißen Kniestrümpfen. Die korrekteren Haferlschuhe hatten sie allerdings gegen elegante Sandalen getauscht. Man wollte ja nicht wie ein Bauer daherkommen. Dass beide fast gleich aussahen, Hermann wirkte ein bisschen asketischer und muskulöser, daran hatten sie sich gewöhnt. Bei Zwillingen ist das eben so und es ersparte den Spiegel.

Sie warteten schweigsam am Strand sitzend, bis es noch etwas dunkler geworden war, zogen dann Sandalen und Strümpfe aus und schoben, alle Geräusche vermeidend, ihren Blauwal ins Wasser. Sie hatten immer die neuesten Modelle zum Testen aus den Rosenheimer Klepperwerken, die neben den revolutionären Faltbooten auch den berühmten Kleppermantel herstellten, der später zur Standardausrüstung wurde für Leute, die in jedem Wetter mit hochgeschlagenem Kragen und Hut draußen stehen mussten. Deswegen hieß dieser Mantel später im Volksmund auch Gestapomantel. Steffi, die Tochter des Hauses, hatte Hermann bei einem Schwimmwettbewerb kennengelernt und sich in seine athletisch gestählte Figur verliebt. Da er jede Menge sportlicher Erfolge aufzuweisen hatte, im Turnen wie im Schwimmen und sogar im Eiskunstlaufen, schien er dem Firmenchef mehr als geeignet, seine Erfahrungen in die Konstruktionen einfließen zu lassen. Nicht alles konnte wirtschaftlich umgesetzt werden, aber seine Arbeit half, die bekannten Boote immer weiter zu verbessern. Gegen die Gefahr des Kenterns empfahl er den Einsatz von seitlichen, aufblasbaren Luftschläuchen, einer Technik, die sich über viele Jahrzehnte bewähren sollte und der Marke Aerius zum endgültigen Durchbruch verhalf. Vom Patent darauf hatte Hermann nichts. Ökonomische Kategorien waren seinem Denken fremd. Er hatte das Testen zugesagt und er führte sein Versprechen mit der ihm eigenen Sorgfalt und Genauigkeit aus. Fritz nannte ihn oft einen freudlosen Pedanten, aber auch das nahm Hermann gelassen. Schlampigkeit und das immer mehr verbreitete oberflächliche Geschwätz von Leuten, die ihr Halbwissen nur benutzten, um damit andere zu beeindrucken und die meinten, der Sinn des Lebens bestünde darin, Spaß zu haben, waren ihm ein Gräuel. Er hatte nichts gegen Ausgelassenheit nach getaner Pflicht, wenn sie nicht zu lange dauerte und wenn sie vor allem nicht ausuferte. Er hatte gelesen, dass Lachen die Erholung und das Kräftesammeln für neue Aufgaben beschleunigte. Das leuchtete ihm ein.


„Du bist der Schlagmann“, sagte Hermann. „Wer vorne sitzt, gibt den Rhythmus vor. Also halte ihn auch ein, sonst passiert das wie eben.“

Ihre Paddel waren zusammengekracht, weil Fritz abgelenkt war vom Versuch die Unterwasserbahn eines Haubentauchers vorherzusehen und er das unterbrochene Paddeln durch höhere Frequenz wieder gut machen wollte.

„Ist schon klar, Mandi. Ich gelobe Besserung“.

Er hielt den Rhythmus wieder ein, sparte sich aber das kraftvolle Durchziehen, weil er merkte, dass Mandis Kräfte und sportlicher Ehrgeiz ausreichen würden, sie mit gehöriger Geschwindigkeit voranzutreiben. Der See war so glatt, dass das Spiegelbild des Schilfs und der Büsche auf der Herreninsel vom Original nicht zu unterscheiden war. Im Westen über Prien türmten sich Kumuluswolken auf, die obersten Ränder waren vom Licht der bereits untergegangenen Sonne in zarter Linie rötlich umrahmt, etwas später verschmolz alles zu einer dunkelgrauen Masse und Hügel und Himmel waren nicht mehr unterscheidbar. Sie durchschnitten elegant das weiche, glatte Wasser, das die Farbe flüssigen Quecksilbers angenommen hatte. Lediglich das leichte Klatschen beim Eintauchen von Fritz' Paddel und das Glucksen der Wassertropfen, die von der nassen Schaufel herunterfielen, war zu hören.

„Man darf beim Eintauchen der Paddel nichts hören, jedes Klatschen bedeutet, dass du deine Energie nicht optimal für die Vorwärtsbewegung umsetzt.“

„Ja, Mandi, ich werde das noch üben.“

„Mach das, zum Beispiel jetzt.“


„Etwas besser. Aber jeder Feind würde deine Annäherung sofort bemerken.“

„Hier ist aber kein Feind.“

„Aber im Ernstfall.....“

„Ich würde ja gar nicht zur Marine gehen.“

„Das ist doch nicht Marine. Obwohl, die Kampfschwimmer gehören schon zur Marine.“

„Kampfschwimmer?“

„Ja. Die, die nachts an ein Schiff des Feindes tauchen und Minen anbringen.“

„Hört sich mühsam an.“

„Ist es auch. Ohne Fleiß kein Preis.“

„Wo gehen wir eigentlich an Land?“

„Da vorne. Es sind nur noch 200 Meter. Siehst du die Landzunge? Man sieht sie eigentlich nicht, weil sie jetzt nicht beleuchtet ist. Das ist die Seepromenade von Prien - Stock. Am Ende ist da ein Pavillon. Dort verstauen wir unsere Sachen.“

Sie näherten sich möglichst unhörbar und stießen schabend auf Grund. Das wäre nicht so gut für die Bootshaut meinte Hermann, man solle jetzt besser aussteigen und das Boot hochtragen. Links tauchten die Umrisse des großen Schaufelraddampfers „Ludwig Fessler“ auf, der schlafend auf den nächsten Morgen und die Schwärme von Touristen wartete, die am Wochenende die Inseln besuchen wollten. Schloss Herrenchiemsee war mit den Jahren eine echte Attraktion geworden. Die Menschen vor 50 Jahren konnten gar nicht einschätzen, was ihr Kini, König Ludwig der Zweite, Gutes für das Land getan hat. Keine Sau würde sich sonst für die flache Herreninsel interessieren, die nur von Kühen bevölkert war, dachte Fritz.

Sie lehnten das Boot an den Fuß des Pavillons und verstauten Paddel, Sülldecke und die Regenjacken im Inneren. Niemand würde um diese Uhrzeit hier vorbeikommen. Dann marschierten sie los. Es war ein guter Kilometer bis zum Tanzcafé Reiter, das an der Straße lag, die Prien mit Stock verbindet. Die Schmalspurbahn war natürlich nachts nicht in Betrieb. Überhaupt waren sie auf der Straße völlig alleine. Keine Menschen und kein Auto störten die Ruhe.

Vor dem Tanzcafé wurde es lebendig. Einige Paare und ein Rudel lauter, junger Männer tummelten sich vor dem Eingang. Sie betraten die heiligen Hallen des Genusses und der Unzucht, von denen die älteren Kollegen geschwärmt hatten und fühlten sich großartig erwachsen. Hermann zog stolz eine Sechserpackung Salem heraus und reichte Fritz die Schachtel hin.

„Donnerwetter. Wo hast du die her? Das nenne ich Perfektion.“

„Wenn schon, denn schon. Jetzt müssen wir uns einen Platz suchen und etwas zum Trinken haben, dann wird der Abend wirklich gut.“

In diesem Augenblick begann die Musik zu spielen. Es war so laut, dass sie sich nicht mehr unterhalten mussten. Und es war eine echte Dixieband mit Schlagzeug, Banjo, Tuba, Posaune, Trompete und Klarinette. Hermann hielt sich lachend die Ohren zu und Fritz blieb der Mund offen. So etwas hatten sie noch nie so direkt und leibhaftig gehört. Das war schon etwas ganz anderes als die verzerrten und verrauschten Klänge aus dem Radio, dem neuen Saba 31W, den sich ihre Eltern gerade zugelegt hatten. Man musste die Musiker spielen sehen und hören, dann ist die Negermusik erstaunlich mitreißend, urteilte Fritz. Dabei waren es gar keine Neger, sondern deutsch aussehende, ordentlich gekleidete Weiße. Vor allem beeindruckte ihn die Virtuosität und das gegenseitige Verständnis, wie sie ohne Noten und ohne Dirigenten perfekt zusammenwirkten. Na ja, als Musik hätte sein Vater und seine älteren Geschwister das nicht bezeichnet. Dafür war es zu wild und zu laut. Vor allem der alles beherrschende Rhythmus hätte sie, die Kenner der kontrapunktischen Musik der alten Meister, zu einer vernichtenden Kritik veranlasst. Sie ließen die Sinnlichkeit, das Berauschende nicht zu und taten es als Relikt primitiver Völker ab. Aber egal, was sie dachten, Fritz zog es in seinen Bann und er konnte sich nicht dagegen wehren. Nach der zweiten Halben sagte Fritz, dass man doch auch einmal tanzen könne, jetzt wo sie schon da wären. Hermann schaute besorgt auf die leere Tanzfläche und meinte, dass das nicht seine Sache sei.

„Ach komm, ist ganz einfach. Du hast die doch alle gesehen. Du musst nur ein bisschen im Rhythmus herumhopsen. Rhythmus. Kennst du doch, oder? Das ist das, wo im gleichen Zeitabstand Töne hervorgebracht werden. Die Musik macht das schon.“

„Du hast leicht reden. Du warst auf dem Tanzkurs vor deiner Abiturfeier. Mit so was hatte ich nichts zu tun.“

„Jetzt sei kein Spielverderber, Mandi. Mach's mir einfach nach.“

Mandis Angst war vom Alkohol ein wenig reduziert, so folgte er zögernd seinem Zwillingsbruder quer über die Tanzfläche zu einem Tisch, an dem acht junge Mädchen kicherten. Zwei sahen ihnen erwartungsvoll entgegen, sie waren beide braun gebrannt, blond, hatten blaue Augen und Blusen aus leichtem, fließendem Stoff mit einem ungebührlich tiefen Ausschnitt, aus dem sich ihre vollen Brüste wölbten. Die mechanischen Möglichkeiten, diesen Eindruck zu verstärken, waren den Brüdern völlig unbekannt, so dass ihre Bewunderung der Anatomie ungetrübt war. Fritz entschied sich schnell, geblendet vom ungewohnten Anblick und deutete Mandi an, es ihm gleich zu tun. Wahrscheinlich auch Zwillinge, dachte er kurz.

Er verbeugte sich knapp und sagte mit strahlendem Lächeln: „Darf ich sie um den nächsten Tanz bitten?“

Er durfte und sah, dass es Hermann auch gelungen war. Sie führten ihre Damen stolz auf die Tanzfläche, die sich langsam füllte und harrten der Dinge, die da kommen würden. Den Rhythmus konnte Fritz nicht gleich einem der ihm geläufigen Tanzformen zuordnen. Er entschied sich für Foxtrott, aber bereits nach kurzer Zeit war das Schulische vergessen und sie hopsten munter und immer ekstatischer herum, schon deswegen, weil die Mädchen ihnen jede Scheu vor eigenartigen Bewegungen nahmen. Sie waren wohl geübter. Nach dem dritten Stück, das sehr schnell und virtuos war, kam Fritz ordentlich ins Schwitzen, aber auch die Haut seines Mädchens glänzte und sie wischte sich lachend den Schweiß aus den Augen.

Es folgte ein ganz langsamer Blues. Ein übler Trick, fand Fritz, jetzt wo ich so schwitze. Sein Mädchen drückte sich schwer atmend an ihn und sie wiegten sich nahezu auf dem Platz stehend in diesem aufreizend langsamen Rhythmus und einer Klarinetten - Melodie, die Sehnsüchte weckte und einen weit fort trug. Jetzt roch er auch einen eigenartigen und betörenden Duft, der vom Hals seines Mädchens ausging. Jasmin, dachte er, gemischt mit einigen unbekannten Komponenten, die ihm mehr als nur angenehm waren. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter, er spürte ihren warmen Atem und nur die feste, hirschlederne Hose bewahrte ihn davor, dass seine Wünsche der Partnerin verraten wurden. Aber sie wusste es auch so und lachte ihn strahlend an.

Dann war der Tanz zu Ende und er sagte. „Vielen Dank, mein Fräulein“ und begleitete sie artig an ihren Platz zurück.

„Jetzt weiß ich, warum solche Veranstaltungen nicht gerne gesehen werden“, sagte Hermann. „Das ist schon sehr unzüchtig, oder?“

„Erzähl mir nicht, dir hat's nicht gefallen. Ich hab's genau gesehen. Du kannst mir nichts vorlügen“, grinste Fritz.

„Ja ja, es war nicht unangenehm. Aber ich habe kein gutes Gefühl dabei. Was denkst du, ist das nun in Ordnung oder nicht?“

„Meine Güte. Komm, wir tanzen noch einmal.“ Und er stand sofort auf.

„Es tut mir leid, schöner Mann. Aber wir müssen nach Hause. Wir haben nur bis zehn Uhr Ausgang und müssen pünktlich im Internat sein. Es war sehr schön. Vielleicht sieht man sich ja wieder.“

„Sag mir, wie du heißt und wo ich dich erreichen kann.“

„Ich bin Sissi. Und wenn es das Schicksal will, werden wir uns wieder treffen.“

Sie hatte nicht nach seinem Namen gefragt. Das Erlebte reichte ihm dennoch, um den Rest des Abends zufrieden und entspannt mit Salem, Bier und Träumen zu verbringen. Punkt zwölf endete das letzte Stück und der Laden wurde geschlossen.

Eine der Melodien summend, machten sie sich auf den Weg. Die kühle, saubere Luft tat ihnen gut und als eine Bö kam und mit ihr ein paar Regentropfen, fanden sie das eher angenehm. Einen halben Kilometer vor dem Pavillon waren es physikalisch gesehen immer noch Tropfen, aber von einem Wasserfall in ihrer Wirkung kaum zu unterscheiden. Noch unangenehmer waren sie, weil sie aufgrund des jetzt heftigen Sturms horizontal daherkamen. Im Lichte der ununterbrochenen Blitze konnten sie sehen, wie ihre ledernen Hosen auf der Steuerbordseite sehr dunkel und sehr weich und etwas länger geworden waren. Sie lachten und liefen um die Wette, weil es gut war und weil keiner bei dem ohrenbetäubenden Lärm aus Sturm, prasselndem Wasser und Donner sie hätte gängeln können. „Die Natur steht über der Obrigkeit“, krächzte Fritz, als sie sich schwer atmend in den Pavillon setzten, um wenigstens ein wenig geschützt zu sein. Langsam wurde die Nässe unangenehm. Sie hatten weder Handtücher noch warme Kleidung eingepackt. Die Regenjacken über den triefnassen Klamotten waren nicht sehr hilfreich zur Verbesserung des Binnenklimas und so froren sie erbärmlich, was wiederum die Stimmung auf ein sachliches Maß drückte. Jammern war aber nicht männlich. Diese Blöße hätten sie sich nie gegeben. An ein Wegfahren mit dem Boot war nicht zu denken, der Wind kam aus Südwest und die Wellen hatten sich zu einer für Süßwasserseen bemerkenswerten Brandung entwickelt. Gischt von den sich an der steinernen Uferbefestigung brechenden Wellen ergänzte immer wieder die Wassermenge, die ohnehin seitlich in den Pavillon drang. Der Boden hatte sich mittlerweile in eine zentimetertiefe Pfütze verwandelt. So ließ es sich nur ausharren, weil es keine Alternative gab. Lange Stunden saßen sie so zusammengekauert und Hermann hielt es für die Strafe Gottes wegen ihres lästerlichen Tuns. Er sagte es aber nicht.

Gegen sechs Uhr morgens geschah zweierlei. Der Regen normalisierte sich und dem einheitlichen Schwarz wich langsam und unmerklich ein düsteres Grau. Die Wellen schlugen aber noch mit gleicher Macht gegen das Ufer.

„Wollen wir?“, fragte Hermann.

„Meinst du, es geht?“

„Klar, wir schaffen das.“

Den Blauwal ins Wasser bringen war einfach, ihn jedoch beim Einsteigen am Kentern hindern, stellte sich als echte Herausforderung dar. Mehrmals saßen sie urplötzlich im Wasser, was aber egal war, weil es den Wassergehalt ihrer Kleidung nicht weiter vermehrte. Im Boot endlich sitzend, zogen sie sich die Sülldecke über den Kopf und hängten sie in den Süllrand ein. Das war eine hervorragende Erfindung bei diesen Verhältnissen, da sich dadurch der Wasserstand im Boot nicht weiter erhöhte. Das schulmäßige Paddeln wich einem wilden Balancieren und Abwettern von Wellenbergen und mehr als einmal krachten sie zusammen. Hermann wusste jedoch für diesen Fall keine Regel. Also schwieg er. Der immer noch ordentliche Südwestwind drückte sie schnell nach Nordosten, so dass Hermann einen Kurs Richtung Südost steuerte. Das heißt, was er für Südost hielt, denn nach wenigen Minuten war in keiner Himmelsrichtung etwas zu sehen außer grauer Farbe und kleine Schaumkronen.

„Meinst du, wir sind schon auf dem Weitsee?“, mutmaßte Fritz nach einer halben Stunde.

„Nein, glaub' ich nicht, dazu sind wir zu langsam.“

Und wirklich, aus dem Nichts tauchte halblinks ein etwas dunklerer Streifen auf.

„Das könnte der Ausläufer der Schafwaschener Bucht sein. Dann sind wir aber weit nach Norden abgetrieben“, meinte Hermann.

„Wir brauchen doch nur am Ufer entlangzufahren, dann kommen wir sicher an“, schlug Fritz vor, schon etwas erschöpft vom Kampf gegen die von schräg achtern anlaufenden Wellen. Immer wieder tauchte der Bug vollständig ins Wasser und übergoss ihn mit einem kühlen Schwall, den er gar nicht mehr erfrischend fand.

„Nichts da, wir sind doch keine Memmen, keine Umwege, wir halten Kurs“, war Hermanns Antwort.

Das Wetter und die Sonne kamen ihnen zu Hilfe. Es entstand eine erste Lücke und der blaue Himmel dahinter zeigte, dass er noch vorhanden war. Das Loch erweiterte sich schnell und damit schlief auch der Wind ein. Sie konnten die Kailbachbucht sehen und fuhren den letzten Kilometer schon fast gemütlich in der aufgehenden Sonne und den mittlerweile harmlos plätschernden Wellen. Erschöpft und glücklich zogen sie das Boot an Land und holten sich aus dem Zelt zwei Flaschen Bier. Das zweite Päckchen Salem, das Hermann als eiserne Ration noch bei sich hatte, war allerdings unbrauchbar geworden. Niemand war da und auch Herr Jell ließ sich noch nicht blicken. So gingen sie leise und unbemerkt ins Zelt und waren schon nach ein paar Sekunden fest eingeschlafen.

Als sie aufwachten, malte die Sonne mit Hilfe von Ästen und Blättern hübsche Schattenbilder auf das Zeltdach und im Inneren war es bereits brütend warm. Ein wenig wurden sie gestört, weil schon etliche Gäste und glückliche Kinder den Strand lautstark bevölkerten. Herr Mühlmann schlenderte herbei und sagte: „Na, so lange schlafen? Das hätte es in meiner Jugend nicht gegeben. Ihr seid doch richtige Weichlinge geworden, mit denen man nichts Rechtes mehr anfangen kann.“

Was meint er denn mit nichts Rechtes, dachte Fritz und fand keine sinnvolle Erklärung.

„Das Problem ist“, sagte er zu Hermann, „dass es zu viele Menschen gibt. Nirgends ist man mehr alleine. Es sind schon bald zwei Milliarden auf der Erde und alle machen Lärm.“

Sie zogen sich die Badehosen an, schnappten sich die Kernseife, schäumten sich ausführlich ein, auch die Haare und die Stellen unter der Badehose und wuschen alles im See durch Tauchen wieder ab, wie alle es machten, die auf Hygiene Wert legten. Dem See machte es nichts, damals.

Hermann schaffte locker dreißig Meter unter Wasser und erschien frisch gereinigt am Steg, sprang die Leiter hinauf und überbrückte ihn sehr zum Erstaunen der Buben und heimlich bewundert von den schon größeren Mädchen im Handstand gehend, gefolgt von einer perfekt geschlagenen Radwende mit anschließendem Rückwärtssalto. Dann schritt er lässig zurück zum Zelt.

„Das Problem ist, dass alle heutzutage Urlaub machen dürfen“, fand Hermann. „Und dass sie damit gar nichts anzufangen wissen, außer faul herumliegen und trinken.“

„Was du im wesentlichen auch nicht anders gemacht hast, gestern und heute wahrscheinlich auch.“

„Haha. Komm, wir machen etwas Sinnvolles.“

„Was denn? Kein Ruhetag heute?“

„Ruhen kannst du im Grab. Nun komm schon.“

Fritz folgte Hermann ins grüne, frische Wasser und sie schwammen am Schilf entlang in Richtung des Ganszipfels, einer kleinen Halbinsel mit Blick auf Frauen-, Kraut- und Herreninsel. Auf dem Weg dahin gab es immer wieder kleine Uferbereiche mit Kies und Sand verborgen vom kräftig wuchernden Schilf.

„Leise“, flüsterte Hermann und stellte sich ins Wasser, das hier nur eineinhalb Meter tief war. „Da ist jemand.“

„Na und, macht doch nichts.“

„Natürlich nicht. Aber wir können hier doch einmal Kampfschwimmer spielen und uns anschleichen. Dazu ist es wichtig, dass so wenig wie möglich von uns aus dem Wasser schaut und wir unsere Schwimmbewegungen nur unter Wasser machen und das sehr langsam. Sonst gibt es Verwirblungen und die machen Lärm. Dann müssen wir nur noch das Schilf durchdringen, ohne dass es mehr als normal raschelt. Für Old Shatterhand und Winnetou wäre das kein Problem gewesen. Das können wir auch. Um gar nicht gesehen zu werden, könnten wir auch tauchen und durch ein Schilfrohr atmen. Das lass' ich aber jetzt aus. Ich geh mal vor.“

Ohne dass Fritz Zeit für einen Einwand hatte, bewegte Hermann sich lautlos ins dichte Schilf. Es blieb ihm nichts anderes übrig als zu folgen. Nach etwa zwanzig Metern stieß er auf seinen Bruder, der in seiner Bewegung eingefroren zum Ufer starrte. Die Reaktion verstand Fritz, als er Hermanns Blick folgte. Es war in der Tat ein Schock. Vier Füsse, zwei davon etwas kleiner, je zwei auf einer Seite und in der Mitte ein riesiges, glänzendes Glied, das in dem Mädchen rhythmisch verschwand und wieder hervorkam. Dazu ein schmerzhaft klingendes Stöhnen der beiden, der Rhythmus wurde schneller und abgehackter. Plötzlich bäumte sie sich auf und er machte ein lautes „uargghh“. Sie stemmte sich hoch, wischte ihre wirren und nassen braunen Haare aus einem feinen Gesicht, das wie ihre Halspartie auffallend errötet war. Ihr großer Busen hob und senkte sich mit ihrem schweren Atem. Der Mann umfasste ihre Brüste und knetete sie, wie es Fritz von seiner Mutter beim Kuchenbacken kannte. Er sah durchaus arisch aus, war aber ungewöhnlich braun, ein Südeuropäer vielleicht, dachte Fritz. Hermann winkte ganz vorsichtig zum Rückzug und genauso leise durchquerten sie das Schilf, um wieder ins offene Wasser zu kommen.

Ungewöhnlich schweigsam waren sie sich einig, das Unternehmen abzubrechen und zurück zum Zeltplatz zu schwimmen. Sie diskutierten das Gesehene nicht, sie erwähnten es nicht einmal, aber sie waren den ganzen Tag über gehemmt und wortkarg, was sogar Herrn Jell auffiel.

„Was ist mit euch los? Hat's Ärger gegeben? Mir ist nichts zu Ohren gekommen. Dann wird’s schon nichts Schlimmes sein“, war seine Reaktion.

Sie hatten abends keine Lust, den Spirituskocher zu bemühen, um in Wasser eingerührtes Erbstwurstpulver zu erwärmen und beschlossen, trotz der schon etwas klammen Finanzsituation noch einmal zum Oberleitner zu gehen.

Es gab Renke. Heute genehmigten sie sich ein zweites Bier. Plötzlich erstarrte Hermann schon zum zweiten Mal an diesem Tag.

„Schau nicht hin. Du glaubst nicht, wer da kommt.“

Fritz sah sich trotz der Warnung unauffällig um und traute seinen Augen nicht. Es waren die beiden, die sie so ungebührlich beobachtet hatten. Er hatte einen weißen Anzug mit einer roten Krawatte und elegante zweifarbige Lackschuhe und sie sah in ihrem hochgeschlossenen, schlichten, hellblauen Kleid und einer hochgesteckten Frisur wie eine Göttin aus, frei von allen menschlichen Regungen und unnahbar. Ihr Gesicht war geschminkt und hatte jetzt eine vornehme Blässe. Die beiden fielen auch bei den anderen Gästen auf, die sie mehr oder weniger anstarrten, die Frauen mit Neid im Blick, die Männer, nun ja, so wie Männer eben schauen beim Anblick einer schönen, begehrenswerten, aber niemals erreichbaren Frau. Und dann setzten sich die beiden auch noch an den Tisch neben den Brüdern. Hermann wurde abwechselnd rot und blass und ihre Unterhaltung kam endgültig zum Erliegen. Dafür konnten sie ohne Anstrengung mithören, was die beiden sagten.

„Hier ist es wunderschön. Meinst du, es gibt auch etwas Ordentliches zum Essen?“, sagte der Mann akzentfrei.

„Ich denke schon, das auf den anderen Tellern sieht ja ganz gut aus. Ich denke, ich nehme auch so einen Fisch.“

„Die können ihn doch hier gar nicht richtig zubereiten. Aber was soll's, ich nehm' das auch.“

„Musst du wirklich morgen schon abreisen? Amerika ist doch so weit. Da bist du ja wochenlang unterwegs.“

„Ich fahre mit dem Zug nach Hamburg und dann mit der Bremen nach New York. Die hat schon das Blaue Band gehabt mit vier Tagen und 17 Stunden. Du siehst, es ist gar nicht so lang.“

„Aber gefährlich.“

„Nein nein, das ist nicht mehr wie vor 20 Jahren. Wir streifen keine Eisberge und wenn, macht das nicht mehr so viel aus.“

„Musst du wirklich weg? Du kannst doch auch bleiben. Deine Arbeit gefällt dir doch, oder?“

„Ja schon, aber Deutschland gefällt mir nicht mehr.“

„Aber die tun dir doch nichts und dem Land geht es jetzt endlich besser.“

„Die wollen für meine Arbeit einen Ariernachweis. Und das wird problematisch.“

„Aber du bist doch gar kein Jude, oder?“

„Nein, natürlich nicht, Gott bewahre. Aber meine Großmutter war eine halbe Roma, das macht mich zwar schön braun, aber die mögen das nicht so.“

„Du bist in Deutschland geboren, deine Eltern auch, das muss doch reichen.“

„Mag sein. Aber JP Morgan zahlt gut und der Job ist prima, weil ich dort für die deutschen Anleihen zuständig bin. Auch Rockefeller und Ford geben Deutschland Geld, viel Geld für den Aufbau und sie versprechen sich zu Recht große Gewinne. Am besten ist und bleibt aber JP Morgan.“

„Und wo bleibe ich dann? Ich kann meinen Beruf doch nicht in Amerika ausüben.“

„Lerne englisch und ich hole dich nach New York.“

„Versprochen?“

„Ja, natürlich. Ich werde doch auf dich nicht verzichten, mein Engel.“

„Na gut, dann essen wir jetzt den Fisch.“


Die beiden waren schon gegangen, als Hermann und Fritz sich noch ein drittes Bier bestellten.

„Ich hab's gleich gesehen, das war kein Arier.“

„Aber er sieht verdammt gut aus. Finde ich.“

„Mag sein. Aber stell dir vor, die bekommen Kinder. Wie werden die aussehen, gescheckt vielleicht?“

„Aber die sind dann schon in der dritten Generation deutsch. Das reicht für die Vorschriften.“

„Aber das Romablut bleibt.“

„Wer ist denn dann deiner Meinung nach richtig deutsch? Sag doch mal.“

„Die Frage versteh' ich nicht.“

„Wir stammen von den germanischen Völkern, ja. Aber da waren auch Kelten, Angelsachsen und vor allem viele Römer. Die wiederum haben sich mit Griechen, Phöniziern, Karthagern, Etruskern und was weiß ich noch alles vermischt. Wir sind eben auch nur eine Mischung. Und so lange ist das alles gar nicht her.“

„Wusstest du eigentlich, warum Adam und Eva keine Chinesen sein konnten?“, grinste Hermann.

„Nein, wieso?“

„Als ihnen von der Schlange der Apfel der Erkenntnis angeboten wurde, hätten die die Schlange gegessen.“ Es war der einzige Witz, den Hermann sich merken konnte.

„Hahahaha. Aber im Ernst: Die ersten Menschen kamen angeblich aus Afrika. Die werden doch keine Neger gewesen sein. Unvorstellbar der Gedanke. Ich versteh das nicht wirklich. Die hätten doch dann langsam immer mehr blass und blond werden müssen, als sie vom warmen Afrika in den kalten Norden ausgewandert sind. Wie soll das denn gehen? Vielleicht sind die Menschen ja auch hier entstanden.“

„Das wäre ja dann eine ganz andere Spezies. Die könnten sich doch dann gar nicht mischen.“

„Das wäre auch gut so. Dann blieben wir leichter reinrassig.“

„Also, ich blicke da nicht durch. Dass die Menschen vom Affen abstammen, wie Darwin meint, mag ja bei den Negern stimmen. Die haben schon eine gewisse Ähnlichkeit. Aber wir sehen doch völlig anders aus, oder?“

„Lassen wir es gut sein, Mandi. Wir wissen es einfach nicht. Wir sind arisch, zumindest sagt das unser Ariernachweis. Wir haben es also amtlich. Und was amtlich ist, ist damit auch richtig. Lass uns schlafen gehen.“


Die restlichen Urlaubstage verliefen ohne aufregende Ereignisse, aber sehr sportlich. Sie liehen sich beim Oberleitner ein paar Mal zwei Chiemseeplätten, diese eleganten, lang gestreckten Holzkähne mit dem typischen trapezförmigen Luggersegel und fuhren Regatta um die Inseln. Von hier konnte man im Süden bei Bernau auch die riesige Baustelle sehen, auf der das Rasthaus entstand, eine Einrichtung, die den Menschen auf der Autobahn nach Salzburg einen willkommenen Anlass für eine Wohlfühlpause bot. Fritz gewann auch einmal das Rennen, als er den kürzesten Weg wählte, während Hermann taktisch klug um die Herreninsel weit ausholte, um nicht in den Windschatten zu geraten. Leider schlief der Wind plötzlich ein und nach einer Stunde dümpelte Fritz als Erster über die gedachte Ziellinie zwischen ihrem Campingplatz und Urfahrn.

„Falsche Taktik, Mandi. Ich war besser.“

„Du hast nur Glück gehabt.“

„Das Glück des Tüchtigen.“

„Von wegen. Die dümmsten Bauern... das ist der passende Spruch.“

„Friede?“

„Revanche.“

„Nächstes Jahr, Mandi, da ist der Wind dann auch vorschriftsmässiger, denke ich, wenn es so weitergeht.“

„Lass so etwas niemanden hören, das könnte als defätistisch ausgelegt werden.“

„Als was?“

„Vergiss es.“

„Falsches Wort, glaub' ich.“


Alles war in die Anhänger gepackt und sie machten sich mit ihren Rädern auf den Weg nach Hause, am Ende quer durch München nach Pasing, wo sie schon von ihren Eltern und Geschwistern erwartet wurden.

„Heute Abend hat die Mutter gefüllten Kalbsbraten mit Spätzle gekocht und dann könnt ihr von euren Abenteuern berichten. Wir sehen uns alle um acht bei Tisch“, sagte ihr Vater nur. Zwei Ereignisse ließen sie in ihrem Bericht aus, ohne sich vorher abzusprechen.

„Und, was habt ihr in eurem Urlaub gelernt?“

„Der Hermann hat mir gezeigt, wie Kampftaucher arbeiten“, Hermann sah Fritz erstaunt an, der aber keine weiteren Details preisgab, „und Regattasegeln hab' ich auch von ihm richtig gelernt.“

„Nun ja“, sagte der Vater, „das ist auch etwas. Gretele und Trudele, ihr könnt der Mutter jetzt in der Küche beim Abwasch helfen. Hans, ich weiß, du hast eine Chorprobe für die Oberammergauer Passionsspiele, du kannst dann gehen. Liebe Grüße von Walter, er wird aus Essen übermorgen zurück sein und seine Proben als Erzengel Michael dann aufnehmen. Und Ihr beiden jungen Männer, ihr geht mit mir in den Salon. Ich habe mit euch zu sprechen.“

Der Salon war ein Wintergarten, dessen Höhe die ganze Westseite ihres Hausen einschloss und der sie mit seinen Palmen, Orchideen und großen Rhododendronsträuchern in ein tropisches Kolonialreich versetzte. Fritz liebte diesen Raum und war dort schon immer als Kind unterwegs, um gegen Riesenschlangen und wilde Raubkatzen zu kämpfen und arme, zurückgebliebene Indianervölker zu beschützen. Ihre getigerte Katze, mit dem phantasievollen Namen Mieze musste so manchen Angriff aushalten und rettete sich häufig in die für Kleinfritzchen unerreichbaren Palmenkronen.

„Bitte setzt euch, ihr seid bald erwachsen und deswegen dürft ihr mit mir auch eine Zigarre rauchen. Ihr habt das noch nie gemacht, also zeig ich es euch.“ Sie waren schnell lernende Schüler.

„Halt, Hermann, nicht einatmen, nur paffen. Einatmen ist nur etwas für die Zigaretten rauchende Unterschicht.“ Der Hustenanfall Hermanns gefährdete beinahe den Verbleib des guten Essens in seinem Magen. Ihr Vater wartete geduldig, bis Hermann wieder normal atmete. Dann folgten beide der Bewegung ihres Erzeugers und lehnten sich entspannt, das Glas Portwein in der Hand, in den weißen Korbstühlen zurück, fühlten sich aufregend erwachsen und harrten der Dinge, die ihnen gesagt werden sollten.

„Was haltet ihr von Herrn Hitler?“

Schweigen. Fritz ergriff schließlich das Wort. „Ich habe mir noch keine Meinung gebildet. Am Campingplatz war alles wie früher. Und sonst waren die Leute auch nicht anders.“

„Außer dass uns in München eine Truppe braun gekleideter Männer entgegen kam im sauberen Gleichschritt“, ergänzte Hermann.

„Und? Mehr habt ihr dazu nicht zu sagen?“

„Ich habe gehört, dass er jetzt Kanzler ist, oder?“ sagte Hermann.

„Und Göring ist Innenminister. Das ist gut, er war ein Fliegerheld“, ergänzte Fritz.

„Lass mal Göring weg, Fritz. Ich möchte wissen, wie ihr jetzt die Situation in unserem Vaterland seht.“

„Ich habe nur gehört, dass es uns jetzt besser gehen wird. Aber richtig schlecht ging es uns doch bisher auch nicht, oder?“

„Ich glaube, ich muss euch erst einmal eine Lektion in Geschichte geben. Ihr seid doch keine dummen Arbeiterkinder, ihr müsst euch für die Geschichte und die Politik interessieren. Also, hört genau zu.“

Sie saßen da, wie sie auch schon vor Jahren andächtig da gesessen hatten. Da waren sie nur kleiner und hatten keinen Portwein, sondern Himbeersirup in Wasser. Ein Getränk, das sie immer noch mochten und heimlich von ihrer Mutter bekamen.

„Wenn ihr so wollt, haben wir jetzt wieder einen Kaiser. Kaiser sind gut, sie führen, sie sind gerecht und sorgen für ihre Untertanen. Nur ist er diesmal vom Volk gekommen und nicht als Sohn einer degenerierten, durch Inzucht verdorbenen Familie. Ob er das Zeug dazu hat, wird sich zeigen. Das mit der Demokratie ist gottlob auch schnell wieder vorbeigegangen. Das kann nicht funktionieren.“

„Wieso eigentlich nicht?“, warf Fritz ein. „Die Menschen wissen doch am besten, was die Menschen wollen und brauchen.“

„So, wissen sie das? Frag doch einmal einen ungebildeten Taglöhner, was er will. Er wird dir sagen, mehr Geld, damit er sich mehr Bier kaufen kann. Und wenn du ihm beibringen willst, dass er etwas für seine Bildung tun muss, damit er eine bessere Arbeit bekommt und damit dem Volke auch besser dienen kann, wird er dir rotzfrech erzählen, dass ihm das Volk egal ist und er lernen langweilig und mühsam findet. Und der soll wählen können? Er wird die wählen, die ihm das meiste Bier für am wenigsten Geld versprechen.“

„Das leuchtet mir ein. Aber wie wäre es, wenn nur ausgesuchte Menschen mit Bildung an die Macht kommen dürften?“

„Darüber haben die alten Griechen schon nachgedacht. Mann nannte das Oligarchie. Aber wer soll die auswählen. Früher waren das die Stärksten und Intelligentesten, gestählt durch den Kampf. Heute haben die Reichen die Macht.“

„Weil sie sich, wie die Fürsten früher, eine eigene Streitmacht leisten können, oder?“ Hermann wollte sein Verständnis zeigen.

„Streitmacht nützt heute nicht mehr. Das funktioniert anders, mit Geld nämlich.“

„Aber es muss doch eine gute Möglichkeit geben, das Volk an der Entscheidung über ihre Regierung zu beteiligen und ihnen nicht einfach Leute vorzusetzen, die keine Ahnung haben, äh.. was man Gutes machen müsste.“ Hermann war jetzt sehr aufmerksam.

„Der damalige preußische Innenminister von Rochow, hat einmal gesagt, dass es sich für einen Untertanen nicht gehöre, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen. Quod licet Jovi, non licet bovi, wussten schon die alten Römer. Ich lese euch einmal etwas vor. Passt auf: 'Man muss bedenken, aus welch jämmerlichen Gesichtspunkten heraus sogenannte Parteiprogramme normal zusammengeschustert werden und von Zeit zu Zeit aufgeputzt und umgemodelt werden. Man muss die treibenden Motive dieser bürgerlichen Programm - Kommissionen unter die Lupe nehmen, um das Verständnis für diese programmatischen Ausgeburten zu gewinnen.' Und weiter: 'Es ist immer nur eine einzige Sorge, die zur Abänderung der alten Programme antreibt: Die Sorge um den nächsten Wahlausgang. So wie in den Köpfen dieser Staatskünstler die Ahnung aufzudämmern pflegt, dass das liebe Volk wieder einmal revoltiert oder aus dem Geschirr des alten Parteiwagens entschlüpfen will, pflegen sie die Deichsel neu anzustreichen.' Und etwas weiter: 'So greifen sie zu den alten Rezepten, bilden eine „Kommission“, horchen im lieben Volk herum, beschnüffeln die Presseerzeugnisse und riechen so langsam heraus, was das liebe, breite Volk gerne haben möchte. Jede Berufsgruppe, jede Angestelltenklasse wird genauestens studiert und in ihren geheimsten Wünschen erforscht.' Und jetzt wird es noch besser: 'Auch die üblen Schlagworte der gefährlichen Opposition pflegen dann plötzlich reif für eine Überprüfung zu sein und tauchen nicht selten, zum größten Erstaunen ihrer ursprünglichen Erfinder ganz harmlos, wie selbstverständlich im Wissensschatz der Parteien auf.' Einmal abgesehen von der Sprache und den unpassenden Metaphern, muss ich doch sagen, dass mich diese Sätze sehr nachdenklich gemacht und letztlich dazu gebracht haben, die Demokratie für falsch zu halten. Nun, was meint ihr dazu?“

„Ich kann nur sagen, was ich immer schon gemeint habe“, sagte Hermann. „Wir brauchen einen klugen und weisen Herrscher.“

„Und wer wählt den aus?“, fragte Fritz.

„Das Volk, indem es ihn wählt.“

„Es muss aber Kandidaten dafür haben, oder?“

„Und schon sind wir wieder beim vorherigen Dilemma“, sagte ihr Vater.

„Aber wenn wir einmal einen hätten, dann könnte der doch jeweils einen Neuen benennen, einen wirklich Guten, oder?“ Hermann glaubte, die Lösung zu haben.

„Und Hitler ist der Richtige?“, fragte Fritz.

„Sympathisch ist er mir nicht, der Herr Obergefreite aus Österreich“, antwortete ihr Vater und sein Gesichtsausdruck unterstrich seine abschätzige Bemerkung, „aber das bleibt unter uns. Was mich jedoch positiv überrascht, ist, dass ehrenwerte Militärs, wie Herr Ludendorff ihn unterstützen und die Finanz- und Wirtschaftsbosse auch. Sogar Henry Ford und Rockefeller spenden ihm große Summen.“

Fritz und Hermann waren weniger erstaunt, als es ihr Vater erwartet hatte. „Wieso machen die das, die Amerikaner?“

„Darüber kann man nur spekulieren. Vielleicht hat er ihnen große Gewinne versprochen. Ich weiß es nicht. Oder die wissen, dass es ohne Demokratie einfach besser funktioniert. Ich kann's euch nicht sagen.“

„Von wem stammt das eigentlich, was du uns vorher vorgelesen hast, Vater?“, fragte Fritz.

„Dreimal dürft ihr raten. Es ist von ihm. Er hat das 1926 bereits geschrieben. Als er Zeit hatte, weil er im Gefängnis saß.“ Ihr Vater lachte dabei herzhaft.

„Ach so, das ist aus 'Mein Kampf'. Dürfen wir das einmal lesen?“

„Natürlich dürft ihr. Aber versprecht mir, dass ihr kritisch dabei denkt und nicht alles so einfach hinnehmt, bloß weil er der Führer ist. Auch das dürft ihr nirgends zitieren.“

„Hast du denn etwas gefunden Vater, was falsch ist.“ Hermann war sichtlich neugierig.

„Macht euch euer eigenes Bild. Nur eins: Ich glaube, er macht einen Riesenfehler, wenn er die Juden hasst. Unsere deutschen Juden sind große Patrioten und können mit ihren Verbindungen ins Ausland sehr nützlich für das Vaterland sein. Eine Folge seines Wirkens gefällt mir natürlich gar nicht. Man hat meinen Verlag geschlossen. Der Fränkische Bote hat uns ernährt, weil ich als Redakteur fest angestellt war. Ich dürfte jetzt für den Völkischen Beobachter schreiben, das ist das Parteiorgan oder für den widerlichen Stürmer von dem Julius Streicher. Dessen Einstellung mag ich nicht. Das ist mir zu einseitig und zu polemisch.“

Die wirtschaftliche Konsequenz dieser Aussage wurde den beiden Jungen nicht bewusst. Der Vater machte das schon alles und sorgte für die Familie.

„Hitler hat in seinem Buch in diesem Zusammenhang auch noch etwas sehr Interessantes geschrieben, was mir einleuchtet.“ Ihr Vater war jetzt wieder hoch motiviert.

„Hört zu, hier auf Seite 262: 'Man kann die Leser', der Presse meint er, 'in drei Gruppen einteilen: Erstens in die, die alles was sie lesen, glauben; zweitens in solche, die gar nichts mehr glauben; drittens in Köpfe, welche das Gelesene kritisch prüfen und danach beurteilen. Die erste Gruppe ist ziffernmäßig weitaus die Größte. Sie besteht aus der großen Masse des Volkes. Sie kann aber nicht etwa in Berufen benannt werden, sondern höchstens in allgemeinen Intelligenzgraden.' Weiter schreibt er, dass diese unkritische Haltung von Vorteil sein kann, wenn man diese Menschen mit ernster und wahrheitsgemäßer Aufklärung versorgt. Von Unheil ist es, wenn sie durch Lumpen und Lügner besorgt wird, die nur die Höhe ihrer Auflagen im Kopf haben. Die zweite Gruppe hält er für zwar klein, sei aber aus Leuten zusammengesetzt, die ursprünglich zur ersten Gruppe gehörten, aber dann zu oft enttäuscht wurden. Diese Menschen wären schwer zu behandeln, weil sie auch Wahrheiten gegenüber misstrauisch sind. Die dritte Gruppe sei die weitaus kleinste. Sie besteht aus den wirklichen geistigen Köpfen der Nation. Der Autor hat bei denen keinen leichten Stand und deswegen würde er diese Leser auch nur 'mit Zurückhaltung lieben'“.

Hier lachte der Vater auf. „Nicht schlecht, der Herr Hitler, oder? Er bedauert es auch, dass die so wenig sind und dass die Macht der Majorität gehört. Das wäre ein Unglück für das Volk.“

„So habe ich Hitler noch gar nicht gesehen“, sagte Fritz.

„Du hast bisher überhaupt keine Meinung von ihm gehabt. Ganz am Anfang hat er auch geschrieben, wie unselig es war, dass im Kaiserreich die Untertanen zu allem, was der Kaiser sagte, demütig genickt und alles akzeptiert haben, auch den größten Unsinn, nur weil das Wort vom Kaiser kam. Da ist schon viel Wahres dran.“

„Und bei ihm soll man das nicht, sondern kritisch seine Meinung sagen?“

„So hab ich das verstanden, ja.“

„Aber ich kann sie ihm ja gar nicht sagen, sondern höchstens unserem Blockwart oder vielleicht dem Zellenleiter von unserem Stadtteil, das ist der Herr Meier mit e i, der geht noch, aber der Blockwart, der Bauer Gusti, der ist, mit Verlaub Herr Vater, ein kompletter Idiot.“

„Ja ja, wie Hitler seine Macht organisiert, ist schon nahezu perfekt. Aber er bräuchte dazu auch die perfekten Leute. Nicht alle sind Asketen und Vegetarier wie er. Eines scheint mir noch sehr wichtig zu sein: Hitler ist der Meinung, das man nicht nur auf den Willen des Volkes achten darf, sondern dass man vielmehr dem Volk eine Richtung geben muss mit hohen Zielen, die nichts mit Geld und persönlichem Reichtum zu tun haben. Hier kommt den Lehrern eine besondere Verantwortung zu. Fritz, du hast wie Walter und Hans den richtigen Beruf gewählt. Aber auch du, Hermann, als Lithograph bist für unser Volk sehr wichtig. Gute Landkarten werden noch eine große Rolle spielen, befürchte ich.“ Den letzten Nachsatz verstanden sie nicht.

„Und zum Schluss zwei Aspekte, die ich auch für wichtig halte, gerade in unserer neuen Zeit. Ich nehme das aus dem Parteiprogramm der NSADP. Ein Zitat des Punktes 20: 'Um jedem fähigen und fleißigen Deutschen das Erreichen höherer Bildung und damit das Einrücken in führende Stellungen zu ermöglichen, hat der Staat für einen gründlichen Ausbau unseres gesamten Volksbildungswesens Sorge zu tragen. Die Lehrpläne aller Bildungsanstalten sind den Erfordernissen des praktischen Lebens anzupassen. Das Erfassen des Staatsgedankens muss bereits mit Beginn des Verständnisses durch die Schule Klammer auf Staatsbürgerkunde Klammer zu erzielt werden. Wir fordern die Ausbildung geistig besonders veranlagter Kinder armer Eltern ohne Rücksicht auf deren Stand oder Beruf auf Staatskosten.' Und noch ein paar Zitate, ich kann das auswendig: '9. Alle Staatsbürger müssen gleiche Rechte u. Pflichten besitzen. 11. Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens und Brechung der Zinsknechtschaft oder 14. Wir fordern Gewinnbeteiligung an Großbetrieben. 15. Wir fordern einen großzügigen Aufbau der Alters-Versorgung. 16. Wir fordern die Schaffung eines gesunden Mittelstands und seine Erhaltung. Sofortige Kommunalisierung der Groß-Warenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende, schärfste Berücksichtigung aller kleinen Gewerbetreibenden bei Lieferung an den Staat, die Länder oder Gemeinden.' Das ist doch alles gar nicht so schlecht, wenn man die Brut der Reichen sieht, die nur vom Geld ihrer Vorfahren leben, das sie verleihen und dafür so hohe Zinsen verlangen, dass sie ein prächtiges Einkommen haben, ohne den Finger zu rühren. Oder sie spekulieren mit dem Geld. Wenn sie ein paar Millionen verlieren, was macht's schon. Die Spekulationsopfer sind ihnen völlig gleichgültig, sie kennen sie ja gar nicht. Sie sind verdorben durch Vergnügungssucht und sinnlose Zeitverschwendung in geradezu obszönem Reichtum. Und außerdem denken nicht nur wir so. Hört euch einmal an, was Franklin D. Roosevelt, der jetzt amerikanischer Präsident ist, gesagt hat. Ich habe das hier aus der Frankfurter und die ist sehr seriös: 'Was auch immer wir tun, um unserer maroden Wirtschaftsordnung Leben einzuhauchen, wir können dies nicht längerfristig erreichen, solange wir nicht eine sinnvollere, weniger ungleiche Verteilung des Nationaleinkommens erreichen… die Entlohnung für die Arbeit eines Tages muss – im Durchschnitt – höher sein als jetzt, und der Gewinn aus Vermögen, insbesondere spekulativ angelegtem Vermögen, muss niedriger sein.' Und weiter: 'Die Demokratie ist bei verschiedenen großen Völkern verschwunden, nicht deshalb weil diese Völker die Demokratie ablehnen, sondern weil sie der Arbeitslosigkeit und Unsicherheit müde geworden sind, weil sie nicht mehr zusehen wollten, wie ihre Kinder hungerten, während sie selber hilflos dasaßen und mit ansehen mussten, wie ihre Regierungen verwirrt und schwach waren ... Wir in Amerika wissen, dass unsere demokratischen Einrichtungen bewahrt werden ... Aber um sie zu bewahren, müssen wir den Nachweis führen, dass die demokratische Regierungsform in ihrer praktischen Arbeit der Aufgabe, die Sicherheit des Volkes zu schützen, gewachsen ist.' Und genau das Letztere funktioniert nicht, mein lieber Herr Roosevelt. Hitler weiß das und kann es besser machen.“ Er hatte sich in Rage geredet, was die beiden Jungen ziemlich erstaunte, weil sie ihn so nicht kannten.

„Aber das sind doch die Parolen der Sozis, oder?“ wendete Fritz ein.

„Wisst ihr, was Hitler einmal gesagt hat? Jeder war einmal Sozialdemokrat, also ich auch.“

„Warum bekämpfte er dann zum Beispiel die SPD?“

„Weil sie eine internationale Vereinigung des Sozialismus wollen und gar nicht merken, wie ihre 'Freunde' aus Frankreich gegen die Deutschen polemisiert haben. Und ein ganz praktischer Grund: Sie wollen den Versailler Vertrag und damit die deutsche Kriegsschuld anerkennen, was enorme Reparationszahlungen zur Folge gehabt hätte und die Deutschland in den Bankrott getrieben hätten.“

„Also waren die ein wenig zu blauäugig.“

„So kann man das nennen. Ich nenne das eher dumm. Aber jetzt Schluss damit. Ich hoffe, euch genügend Anregung gegeben zu haben, damit ihr zu der dritten Gruppe gehören werdet. Nur meine eigenen Artikel, die müsst ihr kritiklos glauben.“ Alle lachten, auch weil sie eine Nähe spürten, die in ihrem Leben bisher noch selten so intensiv war.

„Und denkt immer daran: Ihr sollt Adler sein und Apila non captat muscas.“

Er sah Hermanns fragenden Blick. „Ein Adler fängt keine Mücken.“

„Bist du eigentlich schon Parteimitglied, Vater?“, fragte Hermann.

August Klein sah ihn lange nachdenklich an. „Ich überlege noch“, sagte er dann und gab sich einen Ruck. „Noch etwas ganz anderes, wofür ihr jetzt groß genug seid. Es geht um das Zusammenleben in der Ehe. Ihr habt euch zwar noch niemanden ausgesucht, aber man sollte dazu schon einiges vorher wissen. Ich überlasse das einem Fachmann und gebe euch das Buch 'Die vollkommene Ehe' von van de Velde. Er hat das 1926, also vor acht Jahren geschrieben, aber es ist sehr umfassend. Lest es und kommt aber nicht auf falsche Ideen, es gibt im Leben wichtigeres. Und nun sollte einer von euch mit mir noch eine Partie Schach spielen. Wer möchte?“

Hermann überließ Fritz mit einer großzügig wirkenden Geste das Schlachtfeld. In Wirklichkeit war er kein Freund des königlichen Spiels. Herumsitzen und Nachdenken war nicht seine Lieblingsbeschäftigung.

Ein unerwarteter Zug überraschte August sichtlich. Er rieb sich die Stirn und grübelte lange. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass sie während einer Partie nicht redeten. Auch die Zeit zum Nachdenken wurde nicht durch eine tickende Uhr eingeschränkt. Dann kam sein Zug, den aber Fritz mit einer wieder überraschenden Gegenmaßnahme parierte. Übersehen hatte er den Läufer seines Vaters, der aus der linken Ecke schräg über das Spielfeld seine Dame aus dem Rennen warf. Von da an, hatte er trotz dreier Bauern, mit denen er im Vorteil war, keine Chance mehr.

„Es nützt nichts, wenn man ein paar Bauern gewinnt, wenn man mit seiner Hauptwaffe nicht sorgsam umgeht, mein Sohn. Ich gebe dir einmal mein Schachbuch von Dufresne. Das ist schon aus dem vorigen Jahrhundert, aber immer noch das Standardwerk. Lass uns schlafen gehen, es ist schon spät.“


Als Fritz zu Hermann in beider Zimmer kam, schlief der ganz und gar nicht. Er lag mit rotem Kopf da und starrte gebannt in das beige Buch mit dem rot unterlegten Titel.

„Das ist jetzt richtig blöd“, sagte er, „wo's spannend wird, ist es auf Latein. Hör mal: Habitus in genuo: Feminam: Irritatio magna posterioris vaginae; feminae genibus et cubitis sustentatae etiam clitoris irritatur. Virum: Magna irritatio partis superioris glandis et totius dorsi penis. Femina magnis anteflexa irritatur pars inferior corpus penis frictione cum arcu pubis et clitoride. Übersetz mir das mal, du hast das schließlich gelernt.“

„Ich versteh' davon auch nichts. Komm, lass uns schlafen“. Fritz war nicht in der Stimmung, mit Hermann über Sex zu reden und außerdem verstand er den Text auch nicht richtig.

„Das meiste ist schon deutsch. Zum Beispiel ist mir jetzt klar, warum die Juden beschnitten werden. Ich dachte immer, das wäre etwas Religiöses, dabei geht es nur um Hygiene. Mag sein, dass das sinnvoll ist, wenn man keine Gelegenheit hat sich zu waschen, wie in der Wüste.“

„Mit dem Schweinefleisch ist das genauso.“

„Was? Wie? Was hat das mit dem Schweinefleisch zu tun?“

„Das Verbot es zu essen, hat seinen Grund im häufigen Befall von Schweinen mit Trichinen oder so.“

„Ach, das meinst du.“

„Jetzt leg das Buch weg und lass uns schlafen, Mandi. Ich bin müde. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Fritze. War ein langer Tag.“

Zwei

„Ihr könnt das Rad nicht neu erfinden.“

„Warum nicht?“, rief es von allen Seiten.

„Weil es schon erfunden ist.“

„Aber wir tun einfach so, als ob es nicht erfunden ist“, warf Franzi eifrig ein.

„Geht nicht. Überlegt einmal, warum das nicht möglich ist.“

„Jeder von uns weiß, was ein Rad ist. Also was soll das Ganze?“ Hartmut stand über den Dingen.

„Das ist genau der Punkt, Hartmut. Das hast du richtig erkannt. Was das Ganze soll? Das werde ich euch gleich erzählen. Wir haben doch im letzten Schulfilm Schimpansen gesehen, die sich ein Ästchen zurechtmachen, um Maden aus den Baumhöhlen zu angeln?“

Alle nickten, nur Hartmut zog eine Augenbraue hoch.

„Und jetzt, denkt einmal nach. Wie funktioniert es, dass die Kinder der Schimpansen das auch können?“

Schweigen.

„Also, wer hat eine Idee?“

Kurt meldete sich. „Die sagen es den Kindern weiter.“

„Meine Güte, bist du blöd. Die Affen können doch nicht reden.“ Es war natürlich Hartmut.

„Die Kinder schauen zu und machen es nach, weil alle Affen alles nachäffen“, rief Gerti stolz.

„Genau. Sie machen es nach. Und wie geht es, dass Menschen etwas, was schon einmal erfunden wurde, auch können?“

„Die Kinder machen es nach?“ fragte Hansi.

„Schon auch. Aber das wäre nicht genug, um eine Erfindung schnell weiter zu verbreiten. Außerdem bestünde die Gefahr, dass das Wissen wieder verloren geht.“

„Da macht halt jemand eine Zeichnung oder beschreibt es. Ist doch ganz einfach. Diese Fragen sind was für kleine Kinder.“ Hartmut war mit Abstand der Größte.

„Das ist es, was uns von anderen Tieren unterscheidet, liebe Leute. Wir können schreiben und lesen und zeichnen. Das ist eine ganz entscheidende Entwicklung der Evolution und schon gar nicht einfach. Und deswegen ist es so wichtig, dass ihr das auch gut lernt. Und das gilt auch für dich, Hartmut. Ohne Schreiben und Lesen seid ihr alle keine richtigen Menschen.“

Alle lachten, außer Hartmut. Seine überhebliche Art ärgerte sie schon lange und sie wussten natürlich von seiner Schwäche. Schon einige Male hatten sich vorlaute Jungs deshalb eine Abreibung eingefangen. Jetzt fühlten sie den neuen Lehrer auf ihrer Seite und das machte sie stark.

Fritz rief sie zur Ordnung. „Ruhe jetzt. Etwas kommt noch vor dem Lesen. Was ist das?“

Schweigen.

„Na, wer kann es sich denken?“

Gerti sagte. „Jetzt weiß ich es. Reden.“

„Vor allem bei dir“, lachte Uli. „Da heißt das aber schwätzen.“

„Können denn Tiere reden?“

„So eine einfache Frage. Natürlich nicht“, Hartmut war schon wieder sehr ungeduldig mit den lächerlichen Kleinen und auch mit dem kindischen Lehrer.

„Doch“, sagte Gerti ungehalten, „Doktor Dolittle versteht sie und kann mit ihnen reden.“

„Kinderkram. So was lese ich nicht.“

„Da würdest du auch jahrelang brauchen, ein ganzes dickes Buch, das schaffst du nie.“ Kurt war sehr mutig und bereute es auch gleich.

Hartmut drehte sich ganz, ganz langsam um. „Dein Nachhauseweg wird heute sehr ungemütlich.“

„Na na, Hartmut. Wir lösen Probleme mit Diskutieren, nicht mit körperlicher Gewalt.“

„Hier vielleicht. Aber draußen können sie nicht überall sein.“

„Wir machen es so. Kurt steht unter deinem persönlichen Schutz, Hartmut. Wenn ihm etwas Unangenehmes passiert, bist du mir verantwortlich. Hast du das verstanden?“

„Ich tu ihm schon nichts.“

„Das reicht nicht. Du bist ab jetzt sein Beschützer.“

„Die Kröte ist mir doch völlig egal. Die soll erst mal in die HJ kommen, dann lernt sie schon, wie der Hase läuft.“

„Zurück zum Thema, Kinder. Können Tiere sprechen? Ich meine nicht das wunderschöne Märchen von Dr. Dolittle, sondern im wirklichen Leben.“

Schweigen.

„Eigentlich verstehe ich unseren Hund ganz gut“, sagte Hansi nach längerer Überlegung. „Wie er guckt, und was er mit dem Schwanz macht, was er mit den Ohren macht und wie er bellt. Das ist auch ziemlich verschieden.“

„Und ist das eine Sprache?“

Uli gab die Antwort: „Ja, irgendwie schon. Nur nicht so, wie wir reden.“

„Genau so ist es. Die Grundlage für eine Sprache ist, dass das Gehirn Begriffe bildet, man nennt das Abstraktion. Ihr alle wisst, was ein Auto ist. Dabei gibt es gar kein Auto. Es gibt nur den Adler vom Apotheker oder den schwarzen Horch vom Doktor Hildebrand, also ganz bestimmte reale Objekte, man nennt das Instanzen eines Begriffs.“

„Müssen wir uns diese Wörter merken?“

„Ihr müsst nicht, es wird nicht abgefragt. Ihr sollte es aber verstehen. Weiter: Ihr verbindet mit dem Auto verschiedene Dinge und Erfahrungen, es hat Räder, einen Motor, man kann damit weit weg fahren und so weiter. Für einen Hund ist das durchaus ähnlich. Nur sind ihm die Räder oder wie es gebaut ist, egal. Er will ohnehin niemals ein Auto bauen.“

„Meine Güte“, sagte Hartmut, „was für ein Zerreden, Zerfragen und was für ein wenig anschauliches Zeug.“

Fritz horchte auf. Diese Ausdrücke kamen ihm bekannt vor. Woher kannte er das?

„Kann er auch nicht, weil er keine Hände hat.“ Ulis Beitrag führte ihn wieder zurück zur Klasse.

„Und braucht er gar nicht, weil er dafür seine Menschen hat, die ihn einfach mitfahren lassen“, ergänzte Ben, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte.

Fritz fand das ausgesprochen witzig und tiefsinnig und nickte ihm anerkennend zu.

„Also Hunde haben auch ein Bild von einem Auto. Sie verbinden Auto mit Einsteigen oder wenn sie schlau und erfahren sind, mit Gefahr, der man ausweichen muss. Ihr seht, alle können solche Begriffe bilden, auch wenn sie keine Wörter dafür haben.“

„Aber dann sind wir doch gar nicht so unterschiedlich, die Tiere und die Menschen, oder?“, sagte Gerti und schien sich darüber richtig zu freuen.

„Das stimmt. Zumindest jedes höhere Lebewesen, wenn es ein Gehirn hat, kann das, jeder auf seine Weise.“

„Aber der liebe Gott hat die Menschen mit einer Seele erschaffen und sie sind das Ebenbild Gottes. Das gilt doch für Tiere nicht“, sagte Franzi.

„Ich finde, Tiere haben auch eine Seele“, trotzte Gerti ihm. „Unsere Hunde und Katzen können auch traurig sein oder glücklich und zufrieden und so.“

„Warum denkt ihr, hat unser neuer Staat so ein hervorragendes Tierschutzgesetz erlassen? Weil Tiere unsere Mitwesen sind, die genauso leiden können wie wir Menschen. Bei diesem Gesetz geht es nicht um schützenswerte Interessen des Menschen, sondern um den Schutz des Tieres an sich und dessen Wohlbefinden. Es basiert auf der Anerkennung der Verwandtschaft von Mensch und Tier, wie sie sich aus der gemeinsamen Entwicklungsgeschichte ergibt. Und das ist sehr, sehr gut.“

„Das Schächten haben sie auch verboten“, sagte Ben. „Und ich finde das gut, obwohl unser Rabbi gesagt hat, das käme von Gott. Das glaub' ich aber nicht.“

„Nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft hat sich der Mensch durch die Evolution so entwickelt, wie er jetzt ist. Auch das Gehirn hat sich so entwickelt. Konrad Lorenz hat das herausgefunden. Die Tiere waren unsere Vorfahren und es gibt nicht den geringsten Grund, dass der Mensch sich nicht auch weiter entwickeln wird.“

„Aber wenn er das Ebenbild Gottes ist, müsste sich Gott ja auch weiter entwickeln“, warf Uli ein.

„Ich denke, wir sollten das, was in der Bibel steht, nicht so wörtlich nehmen“, meinte Fritz. „Der liebe Gott wirkt über die Evolution und er findet sicher alles gleich gut, was entstanden ist. Ihr seht den lieben Gott in jedem Stückchen Natur.“ Und ob er lieb ist, das werden wir noch sehen, dachte Fritz, sagte es aber nicht.

„Dann sind Neger, Franzosen und Juden auch gut, oder wie?“ Natürlich kam das von Hartmut.

„Sie sind nicht schlechter, wenn du das meinst. Sie sind unausweichlich anders“, antwortete Fritz und übernahm damit eine Formulierung aus den NSDAP - Unterrichtsrichtlinien.

„Dann sollten sie sich aber auch nicht vermischen, oder?“

„Ich meine folgendes: Die verschiedenen Rassen haben sich in der Isolation entwickelt, um sich den Gegebenheiten ihres Lebensraums möglichst gut anzupassen. Neger sind zum Beispiel so dunkel, weil ihre Haut vor der Sonne geschützt werden musste. Das war bei den Eskimos nicht nötig. Die mussten unempfindlich gegen Kälte werden. Wenn die Menschen sich aber alle vermischen, und das geht heutzutage leicht, weil jeder schnell dahin reisen kann, wohin er mag, dann werden mit der Zeit alle gleich und auch die einzelnen Kulturen und Sprachen verschwinden. Das wäre in der Tat nicht gut. Denn gerade die verschiedenen Kulturen sollten sich gegenseitig befruchten, damit Neues und Besseres geschaffen werden kann.“

„Aber unsere Kultur ist doch die Beste, oder?“

„Wenn wir in die Geschichte schauen, dann ist das wohl richtig. Wir kommen darauf und auf die Vererbungslehre in den nächsten Wochen. Dann werdet ihr das besser verstehen. Jetzt möchte ich noch einmal auf das Rad zurückkommen. Ich stelle euch eine Aufgabe: Das Rad braucht möglichst ebene Straßen. In unebenem Gelände funktioniert es nicht so gut. Ihr sollt etwas konstruieren, damit das Rad auch ohne Straßen gut benutzt werden kann. Ihr habt dafür eine halbe Stunde Zeit. Zeichnet eure Lösung auf und macht schriftliche Erklärungen dazu. Also los.“

Fritz war froh, dass er sie von den heiklen Themen durch praktisches ablenken konnte und war sehr neugierig auf ihre Lösungen. Er hielt viel davon, dass seine Kinder konstruktiv denken lernten und sich einer komplizierten Aufgabe stellten. Intelligenz bestand für ihn aus der Fähigkeit, schnell und sicher in unbekannten Situationen zu brauchbaren Resultaten zu kommen und nicht darin, ein Parteiprogramm auswendig zu lernen und darin nach vorgefertigten Lösungen zu suchen.

Hartmut war als Erster fertig, faltete sein Papier zusammen und brachte es zum Pult.

„Das war einfach“, sagte er.

Das nächste Mal wollte Fritz die Aufgabe stellen, eine automatische Anlage zum Tränken der Kühe auf der Weide zu erfinden und fragte sich, ob Hartmut dann auch so schnell sein würde. Er sammelte die Papiere ein und entließ die Klasse für heute. Es waren eigentlich vier Klassen, die er gleichzeitig unterrichten musste, weil Aidling und Riegsee zusammen zu wenig Kinder hatten. Das war oft schwierig, andererseits war es ganz nützlich, weil solche Geistesheroen wie Hartmut auch in der obersten Stufe noch Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben hatten, so dass für sie selbst der Basisunterricht noch immer eine Herausforderung war. Einen kontinuierlichen Unterricht zu gestalten, war in der letzten Zeit allerdings aus anderen Gründen kaum möglich. Die Organisation der Partei hatte so viele sogenannte Feiertage geschaffen, dass es ständig Unterbrechungen gab. Da war der Tag der Machtergreifung, der Heldengedenktag, Hitlers Geburtstag oder der Tag der nationalen Arbeit, es gab den Muttertag, das Fest der deutschen Jugend zur Sonnenwende oder das Fest der deutschen Schule, den Tag des deutschen Volkstums, Schulentlassungsfeiern, Flaggenappelle, gemeinschaftliches Radiohören der Hitlerreden oder Jugendfilmstunden mit volksaufklärenden Filmen. Die Kirche hatte auch noch ihre Ansprüche angemeldet. Dazu kam, dass die immer mehr werdenden Mitglieder der Hitlerjugend und des Bundes deutscher Mädchen, des BDM, grundsätzlich am Samstag keine Schule hatten, weil sie da zu einem sogenannten Heimnachmittag mussten. Jeden Mittwoch war für sie Sportnachmittag und einmal im Monat gab es Gruppenappell, einmal im Monat war eine Fahrt angesagt mit Zeltlager, Exerzieren, Sport, Schießübungen, Fahnenappellen und Geländemärschen. Eine wirkliche, fundierte Bildung wurde immer schwieriger. Fritz fand, dass sich das über kurz oder lang rächen würde und die Überlegenheit der arischen Rasse gefährden könnte. Über diese Formulierung musste er grinsen.


Fritz saß an seinem provisorischen Schreibtisch in seiner kleinen Wohnung, die im Gebäude des Bauern Johann Pulver für den Lehrer von der Gemeinde eingerichtet war. Sie bestand aus einer Wohnküche und einem Schlafraum, Bad und Toilette konnte man über den Flur erreichen. Badetag war jeden Samstag nachmittags, da heizte die Magd Susi Mader den Kessel mit Holz an. Warmes Wasser gab es an den anderen Tagen nicht und die Toilette bestand aus einem Sitzbrett mit einem großen Loch, durch das alle Resultate direkt auf den gemeinsamen Misthaufen von Mensch und Tier fielen, praktisch und hygienisch einwandfrei. Heute würde man sagen, der Prozess war optimiert, weil der Odelwagen direkt von hier die Düngung für die Weiden und Felder abholte. Bezahlen brauchte Fritz nichts. Die Lehrerwohnung war eine staatliche Leistung. Bei seinem mageren Gehalt als Hilfslehrer war das hoch willkommen. Gab es ihm doch die Freiheit, hie und da auch in die Berge oder an die Seen zu reisen.

Er nahm sich die Zeichnungen der Kinder vor und war sehr zufrieden. Einer hatte das Rad riesengroß gemacht, so dass es kleinere Unebenheiten schluckte, ein anderer hatte eine Art Teppich vorgesehen. Man benötigte zwei davon, die von den Menschen abwechselnd unter die Räder gelegt wurde, ein dritter Entwurf war vielleicht nicht so praktikabel, aber phantasievoll. Das Fahrzeug war mit einem Behälter ausgestattet, aus dem Sand vor die Räder gehäuft wurde, um eine ebene Fläche zu schaffen. Hinten wurde der Sand wieder aufgenommen. Und was Hartmut so schnell zum Ergebnis kommen ließ, war, dass er einfach einen Panzer gezeichnet hatte. Immerhin hatte er die Erkenntnis gehabt, dass die Lösung bereits bestand und ziemlich optimal war.


Fritz schaute aus dem Fenster und sah auf dem kleinen Marktplatz den Pfarrer Joseph Weinzierl mit ungewohnt schnellem Schritt gehen. Wenige Augenblicke später klopfte es an seiner Tür.

„Grüß Gott, Herr Lehrer. Stör' ich?“

„Aber nein, kommen sie herein, Herr Pfarrer, ich habe auch schon einen Stuhl für Gäste. Nur Anbieten kann ich ihnen außer einem Sprudel noch nichts.“

Joseph Weinzierl lehnte mit einer großzügigen Handbewegung ab und ließ sich umständlich, seine Soutane glatt streichend, nieder. Sein Gesicht war gerötet vom schnellen Gehen oder vielleicht vom vorigen Genuss alkoholischer Getränke. Er versuchte, seinen Kollar ein wenig zu weiten, was den Eindruck der Qual noch unterstrich.

„Und? Haben sie sich schon ein bisschen eingelebt?“, war seine Gesprächseröffnung.

„Ja, natürlich. Ich bin ja auch nicht weit weg von zu Hause.“

„Aber München ist doch eine ganz andere Welt. Hier leben einfache, bodenständige Leute, fest verankert im christlichen Glauben.“

„Ich bin schon auch katholisch erzogen“, sagte Fritz ein wenig eingeschüchtert angesichts der ganzen, ihm gegenüber sitzenden Macht der Kirche.

„Das ist schön. Dann dürfen wir sie am Sonntag immer in der Kirche begrüßen. Ich würde mich freuen.“

Das war unangenehm. Den regelmäßigen Kirchenbesuch hatte er vor Jahren schon beendet, obwohl im Religionsunterricht gesagt worden war, dass das Fehlen eine Todsünde war. Todsünden führten zwangsläufig direkt in die Hölle ohne eine weitere Instanz anrufen zu können. Genau genommen war er seit über zehn Jahren nicht mehr in einer Messe. Sein Vater hielt nicht viel von der Kirche als Organisation. 'Es ist eine reine Machtorganisation, die den Glauben der einfachen Leute nur für ihre Zwecke nutzt. Das Jenseitsversprechen mit Himmel, Hölle und Fegefeuer ist eine geniale Idee, das muss ich zugeben. Man braucht die Erfüllung nie nachweisen und es kostet nichts. Schau dir die Geschichte an, dann weißt du, woran du bist.'

Fritz versuchte es mit einer schwachen Ausrede. „Ich muss leider gerade jetzt am Anfang viel arbeiten. Vorbereiten, Korrigieren und so fort. Das muss ich am Sonntag machen, weil mir sonst keine Zeit bleibt. Aber wenn es geht, komme ich gerne.“ Insbesondere das 'gerne' war gelogen.

„Wie gesagt, ich würde mich freuen. Gerade in der heutigen Zeit breitet sich der Unglaube immer mehr aus. Und das ist nicht gut für die Menschen.“

„Aber der Führer leitet sie doch an. Daran können sie sich festhalten, oder?“

„Der Führer ist gut für das Diesseits, aber für das Jenseits braucht man uns schon noch. Außerdem weiß ich, dass der Führer stark im Gottglauben ist.“

Fritz wollte sich auf die Diskussion nicht einlassen, weil er im Stillen eine Meinung hatte, die weder der Kirche noch dem Führer genehm gewesen wäre.

„Nun denn. War gut, dass wir einmal gesprochen haben. Ich freue mich jedenfalls, dass sie jetzt bei uns sind, Herr Klein“, sagte der Pfarrer nach einer kurzen, ein wenig peinlichen Pause.

„Vielen Dank für ihren Besuch, Herr Pfarrer. Kommen sie jederzeit wieder.“

„Na, das nächste Mal besuchen sie mich, oder?“

„Ja, gerne.“

Und dann kam der alte Trick. Beim Hinausgehen sagte Joseph Weinzierl. „Übrigens, beim Unterricht über die Lehre von Darwin und diesem Lorenz, die sie ja offensichtlich gut kennen, wäre es gut, wenn sie die Sonderstellung des Menschen mit seiner unsterblichen Seele gegenüber dem Tier deutlicher herausstellen würden. Sonst entsteht bei den Kindern ein falscher Eindruck und der ist später kaum mehr zu korrigieren.“

„Es wäre doch gut, wenn wir uns da ergänzen, Herr Pfarrer. Im Religionsunterricht können sie das aufgreifen und ich weise darauf hin.“

„Sie sind ja ein Politiker, Herr Klein. Aber gut. Ich werde die lächerlichen zwei Randstunden, die mir durch das Konkordat zugebilligt wurden, dafür nützen. Wenn die Stunden nicht gerade durch eine HJ – Veranstaltung wieder einmal ausfallen.“

„Da sprechen sie etwas Wichtiges an. Ich habe da auch Probleme. Ich werde mit dem Bannführer sprechen. Er kann doch auch kein Interesse daran haben, dass die Kinder nicht ordentlich lernen.“

„Ich habe das schon einmal gemacht. Wissen sie, was er gesagt hat?“

„Nein.“

„Ich zitiere: Wie wollen keine geistreichen Schwächlinge, sondern körperlich gestählte Schüler.“

„..'um den körperlich bereits tadellos vorgebildeten jungen Menschen nur mehr in den Soldaten verwandeln zu müssen'. Ja ja, das kenne ich. Das stammt aus dem Programm der NS-Lehrerbundes für die Schulen generell.“

„Er hat es wohl auswendig gelernt. Er kann ja auch nichts dafür, dass er so muss.“

„Aber selber denken, kann er schon, oder?“

„Oh. Sie sollten so eine Ausdrucksweise nur sehr vorsichtig benutzen. Sie verstehen?“

Fritz störte, dass er ausgerechnet dem Pfarrer recht geben musste.

„Einen guten Rat gebe ich immer weiter. Es ist das einzige, was man damit machen kann.“

„Holla, junger Mann. Das ist sehr aufmüpfig.“

„Ist nicht von mir. Ist von Oscar Wilde.“

„Seien sie bitte vorsichtig. Sonst ist ihre Karriere schneller zu Ende, als sie begonnen hat. Übrigens, der Lehrer hat einen festen Platz an unserem Stammtisch. Der ist immer am Freitag um acht Uhr abends in der Post, beim Baumann Hubertus. Sie sollten dabei sein, dort sind alle wichtigen Leute“, grinste Weinzierl. „Wichtig für das Dorf“, fügte er hinzu.

„Soll ich da regelmäßiger hingehen als in die Sonntagsmesse?“

„Sie sind ein Schelm, Herr Lehrer.“ Damit ging Joseph Weinzierl endgültig.


Fritz schaute nachdenklich aus dem Fenster. Woher wusste der Pfarrer Einzelheiten aus seinem Unterricht? Moment mal, dachte er, wir sind in einem Dorf. Da verbreiten sich, ganz im Gegensatz zur physikalischen Theorie, Nachrichten schneller als mit Lichtgeschwindigkeit. Und war der Pfarrer ein Freund? War er tatsächlich erfüllt vom Gedanken der Nächstenliebe? Fritz würde es herausfinden, nicht weil er den Pfarrer zum Freund wollte, sondern weil er es interessant fand, ob er die strengen Maßstäbe seines Glaubens auch an sich selbst anlegen würde.

Mit stolzem, zackigem Schritt kam ein weiterer Mann in sein Gesichtsfeld. Er ging in die gleiche Richtung wie vorher der Pfarrer. Und tatsächlich, eine Minute später klopfte es. Was ist denn heute los, dachte Fritz. So viel Aufmerksamkeit hatte er hier noch nicht erfahren.

Rufus Braun grüßte nicht und fragte auch nicht, ob er störe. Er setzte sich sofort auf den freien Stuhl.

„Bitte kommen sie doch herein und nehmen sie Platz“, sagte Fritz. Rufus Braun beachtete die Ironie nicht. „Wollen Sie ein Glas Sprudel?“

Braun winkte nur ungeduldig ab, weniger demütig als der Pfarrer. „Wie kommen sie dazu, meinen Sohn vor der Klasse bloßzustellen?“

„Sagen wir es einmal so. Hartmut hat stark provoziert. Da war ein kleiner Dämpfer schon angebracht.“

„So, meinen sie?“

„Was hat er ihnen denn erzählt?“

„Er wusste nicht mehr genau, was sie gesagt haben. Aber die ganze Klasse hat gelacht. Verstehen sie mich nicht falsch. Ich bin für eine strenge Erziehung und sie müssen auch streng sein. Das erfordert die Disziplin, weil sonst aus den Kindern keine tüchtigen Erwachsenen werden. Aber sie müssen alle gleich streng behandeln. Auch die Mädchen. Die haben meiner Ansicht in der Klasse zwar nichts zu suchen, aber es ist jetzt nun mal so. Die sollten lieber in den BDM gehen und Haushalt und Kinder kriegen lernen.“

„Aber Schreiben und Lesen sollen sie schon können, oder?“

„Ja, auch ein bisschen rechnen, damit sie den Haushalt ordentlich führen können. Aber Rassenkunde muss nur gestreift werden, da sorgen dann schon die Jungs für die richtige Fortpflanzung. Und Geschichte und Deutsch und so brauchen die doch gar nicht. Verstehen sie ja sowieso nicht. Im Sport sollen sie ein bisschen rumhüpfen und den richtigen Sport den Jungs überlassen.“

„Zurück zu Hartmut. Er müsste sich tatsächlich ein bisschen anstrengen. Beim Lesen und Schreiben müsste er schon viel weiter sein.“

„Er hat ganz andere Talente.“

Fritz wartete ab, ob er über die Talente Hartmuts aufgeklärt würde. Er wurde.

„Er ist im Ringen und Boxen mit Abstand der Stärkste und geht einer glänzenden Karriere bei der zukünftigen Wehrmacht entgegen.“

„Die es noch gar nicht gibt.“

„Ja ja, die heißt noch Reichswehr. Aber warten sie ab, in zwei Jahren sieht das ganz anders aus.“

„Wir dürfen doch gar nicht..“

„Meinen sie wirklich, der Führer kümmert sich um das Verbot. Der führt Deutschland ganz schnell wieder zu Einfluss und Macht.“

„Da haben sie recht. Es wird wirklich höchste Zeit, dass wir die Depression überwinden. Aber wir sind doch auf einem guten Wege. Die Arbeitslosenzahlen werden schnell sinken, sie sind gegenüber dem Vorjahr schon von 5,5 Millionen auf 4,8 Millionen gesunken.“

„Sie kennen sich ja gut aus. Sind sie schon in der Partei und im NS-Lehrerbund?“

„Nein. Das geht mir alles zu schnell.“

„Das muss schnell gehen. Der Führer will alles zu Lebzeiten schaffen. Er ist schon 45.“

„Zurück zu Hartmut. Was machen wir?“

„Er ist der Sohn des Ortsgruppenleiters, also muss man ihm auch den gehörigen Respekt zollen.“

Das ist interessant, fand Fritz. Für ihn stand das im Gegensatz zum gottlob beendeten Dynastiendenken zugunsten der jetzt allgemein geltenden Chancengleichheit für alle.

„Sie sagen ihm, er soll nicht mehr so arrogant sein und sich in der Schule mehr anstrengen und ich tue das Meine dazu.“

„So läuft das nicht. In erster Linie müssen sie als Lehrer lernen, die Gesinnung und Willen bildende Wirkung durch Zerreden, Zerfragen, abstrakte Lehre oder gedächtnismäßigen Drill nicht abzuschwächen oder zu vernichten.“

Daher also. Es war ebenfalls ein Zitat aus den Richtlinien. Können die alle nicht selbst denken oder was läuft da ab? Und: Hatte der Herr Ortsgruppenleiter überhaupt verstanden, was er da sagte. Er hatte Lust, ihn ein wenig zu provozieren.

„Kant schrieb: 'Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.' Dazu müssen wir unsere Kinder doch erziehen. Das sind wir der großen deutschen Kultur schuldig.“

„Wo steht das? Ich habe das nicht richtig verstanden.“

„Das ist von Immanuel Kant.“

„Ach so, ja natürlich, der Philosoph. Da muss ich mal fragen, was wir von dem halten.“

„Ich mache Hartmut für andere verantwortlich. Dann lernt er vielleicht was es heißt, Verantwortung zu tragen.“

„Der kann das schon. Das liegt bei ihm in den Genen. Da müssen sie nichts weiter tun. Erziehen sie lieber den Ben und die Gerti. Die passen sich gar nicht richtig ein.“

„Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde zu sein, muss man vor allem ein Schaf sein.“

„Was?“

„Sie haben das schon verstanden“, lachte Fritz.

„Von wem ist denn diese Unverschämtheit. Haben sie sich das ausgedacht?“

„Nein, ist von Einstein.“

„Ach so. Na klar, was soll denn von dem schon Vernünftiges kommen. Seien sie vorsichtig. Sonst ist ihre Karriere schneller zu Ende, als sie begonnen hat. Und gehen sie in den NS-Lehrerbund. Da können sie lernen, wie man einen guten Unterricht macht.“ Und weg war er.

Jetzt hatte er innerhalb weniger Minuten schon zwei wohlgemeinte Drohungen erhalten. Wenn das so weiter geht, werde ich ziemlich schnell ein richtiges Problem haben, dachte Fritz hellsichtig. Andererseits war er unzweifelhaft im Recht mit seiner Einstellung. Er erinnerte sich an den Passus aus 'Mein Kampf', in dem Hitler die Unmündigkeit der Menschen beklagte, die die kaiserlichen Befehle kritiklos befolgten. Schillers Wilhelm Tell fiel ihm ein und der Satz: „Siehst du den Hut dort auf der Stange.“ Schiller hatte die Verordnung, den Hut zu grüßen als Gleichnis für absurde, die Menschenwürde verletzenden Befehle genutzt. Schiller war sehr deutsch und seines Wissens von der Partei als Dichter empfohlen. Also war er auf der richtigen Linie und nur die unteren Chargen der Organisation waren zu dumm, um den Führer zu verstehen. Nein, ich werde mich nicht ändern, ich habe recht und dabei bleibt es.


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