Blog von Friedrich Haugg

© 2016 Friedrich Haugg


Blog vom 7.Juni 2016 - Über das Schreiben und Lesen


Ich habe gerade die Vorteile des Interview - Stils entdeckt. Kurze Überschriften, da weiß man gleich was kommt. Und man kann es überspringen. Praktisch in der heutigen Zeit. Jetzt mach' ich erst mal alles so...

Hast du einen gewissen Anspruch ans Schreiben?

Aber ja. Ich weiß nur nicht, ob ich dem gerecht werden kann. Ein ganz Großer hat ihn formuliert:

"Ein Eisberg bewegt sich darum so anmutig, weil sich nur ein Achtel von ihm über Wasser befindet"

Ist von Hemingway. Gut, nicht? Es ist auch noch ein Satz auf der Meta - Ebene. Er gilt auch für sich selbst. Deswegen ist er ja so gut: Man verweilt bei ihm, man liest ihn zwei- dreimal, bevor man ihn genau erfasst hat.

Aber das ist doch nichts Neues. 'In der Kürze liegt die Würze.' Oder wie der moderne Manager seinem Untertanen sagt: 'Keep it short and simple.'

Das ist eben das große Missverständnis. De Manager meint: Weglassen. Alles was nicht direkt zum Ziel führt ist unwichtig und verwirrt den Zuhörer / Leser nur. Außerdem bietet die Abschweifung ständig Möglichkeiten zum Widerspruch. Das ist ein anderes Ziel.

Hemingway meint etwas anderes. Fordere den Leser, mach es ihm nicht einfach, über deinen Text hinwegzulesen. Überrasche ihn, damit er anfängt nachzudenken, auch über sich selbst. Hemingway gelingt das nahezu perfekt, auch wenn er gerade nicht 'in' ist.

Was glaubst du denn, ist 'in'?

Mir fällt auf, dass Bücher, auch von unbekannten Autoren, schnell in die Bestsellerliste des Spiegel kommen und auch sofort wieder verschwinden. Das erinnert mich an die Marketing - Strategie der Musikbranche: Ich picke mir einen heraus, den man leicht 'hypen' kann, fokusiere den Umsatz auf diesen 'Künstler', beobachte genau, wann der 'Hype' abebbt und bringe den Nächsten. Schlau, diese Taktik, immer Riesengewinne ohne dass man einen wirklichen Künstler benötigt.

Das Zweite ist, dass es anscheinend Genres gibt, die bei bestimmten Zielgruppen gut ankommen. Die sogenannte 'Gegenwartsliteratur', die 'Beziehungsromane' oder die Lokalkrimis. Gerade die Letzteren haben eine verlässliche Klientel im geografischen Einzugsbereich.

Was ich aber vor allem befürchte: Bücher werden immer weniger gelesen. Da ist natürlich das Fernsehen, aber vermehrt auch das Internet mit den Videos on demand wie bei Sky, Amazon Prime und so weiter. Ja nicht einmal die Filme werden in Ruhe angesehen. You Tube ist der Renner. Das sieht man etwa daran, dass auch seriöse Medien wie T-online, oder SPON jeden Tag mindestens einen sensationellen Clip zeigen: Ein Krokodil, das über den Golfplatz schreitet, ein Tiger, der mit einer Ziege zusammmenlebt und am besten: Irgendwelche Ungeschicklichkeiten von Menschen, die sich damit lächerlich machen.

Ja schon. Aber was schadet es? Kann ja ganz amüsant sein und Lachen ist gesund, gerade in der heutigen Welt, die größtenteils beängstigend ist, oder?

Mag sein. Nur wenn ein Mensch seine Zeit mit diesem Blödsinn verbringt, dann vergeudet er sie wirklich. Ich habe noch ein Zitat:

"Die Gesellschaft spaltet sich in eine technokratische Elite und eine große Masse, die sich mit mehrheitlich unqualifizierten Jobs über Wasser hält und mit billiger Unterhaltung ruhiggestellt wird." (Gottlieb Duttweiler Institut über vernetzte Gesellschaft)

Das wird zu einem richtigen Problem. Die Bildung diffundiert ins Bodenlose. Bildung ist anstrengend, nur teilweise interessant und selten zum Lachen. Menschen ohne gute Bildung sind besonders leicht manipulierbar. Ich meine Bildung, nicht die WWM - Fragen bei Jauch.

Das klingt ganz schön pessimistisch, ja geradezu defätistisch. Bist du ein Pessimist?

Ja, geworden. Meine erwachsene Jugend habe ich in den siebziger Jahren erlebt. Da war Aufbruchstimmung. Alles schien besser zu werden, friedlicher, freundlicher, toleranter. Leider gehört gerade zu diesen schönen Attributen Bildung, Bildung, Bildung. Reisen zum Beispiel bildet. Aber so, wie wir das gemacht haben. Da war ein anderes Land tatsächlich ein anderes Land. Heute ist der Tourist schon sauer, wenn er in Ägypten keine Bratwurst bekommt. Aber das hat sich ja erledigt. Agypten und so weiter, meine ich.

Bevor wir versinken - nach einer Idee, wie man es besser machen kann, frage ich lieber gar nicht - erzähl noch etwas vom Schreiben und Lesen.

Ach ja, das Schreiben. Reden wir vom Menschen wie du und ich. Es beginnt vor langer Zeit. Ein Blatt weißes Papier. Handschrift. Eine Woche, bis der Brief ankommt und eine weitere für die Antwort. Zeit zum Nachdenken, zum freudigen Erwarten, zum Überlegen, was ich als Nächstes zu Papier bringen will. Dann wurde der Federhalter abgelöst von der Tastatur , die Post durch den Draht. Email ist immerhin noch selbst Geschriebenes, das Antworten asynchron, also immer noch Zeit zum Überlegen. Wenn es zu lange dauert, gilt das höchstens als unhöflich. Jetzt chattet man, oder What's apped man. Tolle Sache, das Letztere gottlob auch noch asynchron. Aber es muss schnell gehen, eingeben gleich Schreiben wie auch das Lesen. Abkürzungen, T9 - Vorschläge, alles Hilfen zur Erhöhung der Geschwindigkeit. Rechtschreibung? Lächerliches Relikt der Geschichte. Vorher Nachdenken? Keine Zeit. Besser die Textvorschläge nehmen. Schnell, schnell, schnell und möglichst viele Kontakte, heute im Wortwandel auch Freunde genannt. Das ist der Tod alles Denkens....

Stopp! Nehmen wir einmal an, es gibt sie noch, die Menschen, die lesen. Was würdest du empfehlen oder besser, was liest du eigentlich?

Ehrliche Antwort? Nun gut. Ich fresse alles von Camillieri und Fred Vargas. Sprachlich großartig und Montalbano und Adamsberg mit ihren Kollegen sind einfach hinreißend. Die raffinierte Handlung ist für mich fast nebensächlich. Wenn ich mich an der Sprache ergötzen will, nehme ich einfach den Zauberberg in die Hand, schlage irgendwo auf und genieße die Sprache, Inhalt völlig egal. Interessehalber lese ich auch noch gerne Ken Follett. Daran bin ich aber handwerklich interessiert. Auch Buchheim oder Schätzing interessieren mich aus gleichem Grund. Wenn ich Streß habe und gut schlafen will, nehme ich den guten alten Karl May zur Hand. Du wolltest eine ehrliche Antwort.

Warum denn, um Himmels Willen, ausgerechnet Karl May?

Sprachlich ist er recht problematisch, aber man muss keine Sorge haben, dass Old Shatterhand oder Kara ben Nemsi wirklich etwas Dramatisches passiert. Außerdem bewundere ich ihn, weil er alles ohne Korrektur in einem Fluß hingeschrieben hat. Ein Phänomen. Ich denke aber, der eigentliche Grund ist ein ganz anderer: Karl May versetzt mich zurück in die wohlbehütete Kindheit. Vater spielt Klavier, Mama liest etwas und ich eben Karl May. Bei Schokolade und Milch. Ich sage das nicht gerne, aber ich befürchte, das ist der Grund. Karl May's Rassismus und seine, in christliche Watte gepackte Überheblichkeit, ist genau genommen unerträglich.

Verlassen wir schnell das Tiefenpsychologische. Zauberberg hat mich bei deiner Auswahl überrascht.

Ich gebe dir ein Beispiel:

"So kam der erste August, und glücklich war unter seinen ersten Tagen der Jahrestag von unseres Helden Ankunft bei uns hier oben vorübergeschlüpft. Nur gut, dass er vorüber war - er hatte dem jungen Hans Castorp etwas unglücklich vorgestanden. So war es die Regel. Der Tag der Ankunft war nicht beliebt, es wurde seiner unter den Voll- und Mehrjährigen nicht gedacht, und während doch sonst kein Vorwand zu Festivität und Becherklang unbenutzt blieb, die allgemeinen und großen Betonungen im Jahresrhythmus und -pulslauf durch möglichst viele private und irreguläre vermehrt und Geburtstage, Generaluntersuchungen, bevorstehende wilde und echte Abreisen und dergleichen Anlässe mehr mit Schmaus und Pfropfenknall im Restaurant begangen wurden - widmete man diesem Gedenktage nichts als Stillschweigen, ließ sich darüber hinweggleiten, vergaß auch wohl wirklich, auf ihn zu achten und durfte vertrauen, dass die andern ihn überhaupt nicht so im Sinne hatten. Auf Gliederung hielt man wohl; man beobachtete den Kalender, den Turnus, die äußere Wiederkehr. Aber die Zeit, die sich für den einzelnen mit dem Raum hier oben verband, die persönlich und individuelle Zeit also zu messen und zu zählen war Sache der Kurzfristigen und Anfänger; die Eingesessenen lobten sich in dieser Hinsicht das Ungemessene und Achtlos-Ewige, den Tag, der immer derselbe war, und einer setzte mit Zartgefühl beim anderen einen Wunsch voraus, den er selbst hegte. Es hätte für ganz und gar ungeschickt und brutal gegolten, jemandem zu sagen, heut sei er drei Jahre hier, - das kam nicht vor. Frau Stöhr selbst, so weit es ihr sonst immer fehlen mochte, in diesem Punkt war sie taktfest und abgeschliffen, nie wäre in solcher Verstoß ihr unterlaufen."

Herrlich, oder?

Gewöhnungsbedürftig, wenn man Twitter kennt.

Weil wir schon dabei sind, ein weiteres Beispiel. Es stammt vom Philosophen Ludwig Klages. Heute vergessen, aber im dritten Reich recht beliebt:
"Wer sich von der Außerzeitlichkeit des Erfassenden und des Erfassens hinlänglich überzeugt hat, für den braucht es keines Beweises mehr für die Außerzeitlichkeit auch des Erfaßbaren oder des Gegenstandes; denn wie möchte wohl ein zeitlich unausgedehnter Akt jemals das zeitliche Fließen erhaschen! Soeben erwogen wir, es könne unmöglich die Zeit sich selber ermitteln; jetzt sehen wir uns zu der merkwürdigen Annahme gedrängt, es könne das ebenso wenig ein Außerzeitliches! Allein hier stoßen wir nicht nur auf gegensinnige Vorurteile, die seit Jahrhunderten eingewurzelt, seit Jahrtausenden vorbereitet sind, sondern scheinen uns auch in einen Widerspruch mit unseren eigenen Voraussetzungen zu verwickeln, insofern es ja gerade das Erfassen der Zeit, also des kontradiktorischen Gegensatzes zur Außerzeitlichkeit, betreffen....

Halt halt. ich versteh' nichts.

Siehst du. Das Beispiel verstehe ich unter schlechter Sprache, verschwurbelt und unverständlich. So ein Buch mit über 1500 Seiten kann man einfach nicht lesen. Das wäre Masochismus.

Ja, ist dann Thomas Mann dein Vorbild?

Ja und nein. Wenn man heute so schriebe, das heißt jetzt 'schreiben würde', bekäme man keine Leser. Aber zwei Dinge kann man von ihm lernen: Sich um Stil bemühen aus Respekt vor dem Leser. Aber noch viel wichtiger ist, dass Thomas Mann ein Prinzip beherzigt, das man heute in jedem, vor allem amerikanischen Leitfaden für Autoren findet: "Show, don't tell". Auch wenn ich Autorenleitfäden verachte - sie sind von Autoren geschrieben, die keinen Erfolg mit eigenen Werken haben - show, don't tell ist ein wichtiges und richtiges Prinzip.

Ich habe jetzt einiges verstanden. Aber ich befürchte, dass dir dazu noch vieles einfällt. Deswegen breche ich das jetzt aus Übermüdung ab.

Klar, versteh' ich. Es wird in der Welt sowieso mehr geschrieben als gelesen. Schreiben fesselt jeden, Lesen hängt vom Text ab. Deswegen noch ein Zitat von Wolf Schneider zum Schluss: "Beim Text muss sich einer quälen, der Absender oder der Empfänger". Darüber denke ich dauernd nach. Bis zum nächsten Mal.




Blog vom 30.Mai 2016 - Das Rätsel Entropie



Mir fällt gerade etwas zur Entropie ein. Kennen Sie nicht? Entropie? Das ist ein Kunstwort, das in der Physik, genauer in der Thermodynamik eingeführt wurde. Es ist ein Maß für die zunehmende Unordnung. Nein, nicht die in Ihrem Zimmer. Oder doch, vielleicht schon. Komme gleich darauf.
Kaffee in Kaffeetasse, alles schwarz. Jetzt einen Tropfen schneeweißer Sahne hineinfallen lassen. Was passiert? Genau, die Ränder verschwimmen zu einer schönen, hellbraunen Mischfarbe. Jetzt umrühren. Bis alles gleich hellbraun ist. So weit, so gut, das kennt man ja alles.
Weiter umrühren. Was passiert? Nichts. Auch nach einer Stunde immer noch nichts. Die Milch bleibt im Kaffee verteilt und zwar sowas von gleich, dass sich die gleichförmige Farbe einfach nicht ändert. Um es gleich vorwegzusagen: Es hat dabei keine chemische Reaktion stattgefunden, die Milch ist immer noch die Milch und der Kaffee auch. Wenn Ihnen das zu unsicher ist, machen sie das Experiment mit schwarzen und weißen Glaskugeln. Auch die werden sich quasi gleichmässig vermischen, wenn sie nur genug davon nehmen.
Na und, sagen sie vielleicht. Nix Neues. Aber ich behaupte jetzt, dass das ungemein viel mit der Zeit zu tun hat. Richtig, mit der Zeit 'an sich'. Die Fomeln der klassischen Physik, von denen unsere heutige Technik lebt, vom Auto bis zur Raumfahrt, genauso wie der Bau von Straßen, Häusern und Maschinen, vom Radio über das Fernsehen bis zum Computer, sind grundsätzlich in der Zeit umkehrbar. Alle, ohne Ausnahme, auch die Formeln der Relativitätstheorie. Das gilt selbst für die rätselhafte Quantenphysik. Die großen Physiker sind dabei über ein Phänomen gestolpert, für das sie keine Erklärung haben. Die Milch im Kaffee ist ein Beispiel. Oder das etwas Drastischere: Fällt die Porzellankanne zu Boden, zerspringt sie in Hunderte Teile. Die klassische Physik läßt zu, dass die Teile, in die Luft geworfen, durchaus wieder die Porzellankanne bilden könnten. Jeder weiß, dass das schlicht unmöglich ist.

Mit den Formeln der klassischen Physik ist ein sogenannter Laplace'scher Dämon denkbar. Dieses Fabelwesen verfügt über die Daten aller Bedingungen, wie Geschwindigkeit, Richtung und Masse aller Teilchen im Universum zu einem bestimmten Zeitpunkt. Dann kann er mit Hilfe der Formeln jeden zukünftigen Zustand des Universums präzise berechnen.
Prima, denken sie. Irgendwann haben wir Computer, die das können. Abgesehen davon, dass das mit dem freien Willen des Menschen völlig unvereinbar wäre, wissen wir heute, dass es diesen Dämon nicht geben kann. Der Grund dafür ist nicht, dass wir die Anfangsbedingungen nicht gut genug kennen. Es geht prinzipiell nicht.
Einstein hat ein gutes Beispiel gegeben: Beim Billardstoß können wir den Ort der Kugel nach bereits sechs Stößen an der Bande nicht mehr wissen. Er ist völlig unbestimmt. Das mag überraschen und deswegen versuche ich eine verständliche Erklärung: Der Winkel und die Kraft des Stoßes, sowie der Ort der ruhenden Kugel müssten genau bekannt sein. Das wäre die Voraussetzung. Nehmen wir nur einmal den Ort. Wie genau können wir den angeben? 12 Zentimeter von einer Ecke. Das würde bestimmt nicht ausreichen. 12.885 cm, das wäre schon eine ordentliche Messleistung. Würde gehen, mit modernen Geräten. Rechnen wir damit, stellen wir fest, dass der Ort nach der sechsten Bande weiter völlig unbestimmt bleibt. Zu sehr addieren sich die Ungenauigkeiten der Ortsmessung, die wir als rechtschaffenen Wissenschaftler konzidieren müssen. 12,885 kann nämlich nicht heißen, genau 12,885. Es müsste heißen: 12,885 +-0,001 zum Beispiel. Also genauer werden: 12,8848764567823456 cm +- 0,000000000000001. Für so eine Genauigkeit gib es natürlich kein Messgerät, aber vielleicht irgendwann einmal. Bei dem technischen Fortschritt. Wir rechnen damit die Bahn aus und stellen bedauernd fest: Nach der sechsten Bande kann die Kugel irgendwo sein.
Langsam geraten wir mit der Größenordnung in den atomaren Bereich. Der Verstand sagt uns, dass spätestens dann die Messung problematisch wird wegen des Mangels an Geräten. Plötzlich taucht eine Frage auf: Ist der Raum - zum Beispiel zwischen den Teilchen - überhaupt kontinuierlich? Kann man ihn also immer weiter unterteilen? Und was heißt immer weiter? Unendlich weiter? Würde heißen, wir bekämen Zahlen mit unendlich viel Stellen hinter dem Komma. Aber was soll das überhaupt heißen? Gibt es solche Zahlen überhaupt? Ja, gibt es. Sie heißen irrationale Zahlen. Pi ist so eine, sie wissen, das mit dem Kreisumfang. Für das praktische Arbeiten hat das aber keine Bedeutung. Wir können sie nicht darstellen und auch nicht benutzen. Wir wissen es nur, dass sie unendlich viele Stellen hinter dem Komma hat.
Was bedeutet das für den Kaffee und die Milch? Nochmal kurz zurück zur Billardkugel. Wir wissen nicht, wo sie sich nach sechs Banden bedindet. Aber wir können etwas anderes wissen: Nehmen wir irgendeinen Punkt auf dem Tisch, können wir berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie sich dort befinden wird. Das ist ein sehr exaktes Ergebnis, dass sich auch mit genügend vielen Versuchen nachweisen lässt. Sie können übrigens so eine Versuchsreihe selbst machen: Nehmen sie einen Würfel und einen Zettel mit den Ziffern 1 - 6 und machen jeweils einen Strich unter der geworfenen Zahl. Da kommt etwa viermal hintereinander die 3. Machen sie es aber lange genug, so kommen alle Ziffern gleich oft. Dagegen helfen nur gezinkte Würfel.
Das ist geheimnisvoller, als sie vielleicht denken. Man kann ausrechnen, wie wahrscheinlich es ist, dass fünfzig Mal hintereinander die 6 kommt. Wie der gesunde Verstand es einem schon sagte: Es ist extrem unwahrscheinlich. Und nun die Milch im Kaffee: Es gibt Abermilliarden von Möglichkeiten, wie sich die Milchtröpfchen im Kaffee verteilen. Darunter ist eine Möglicheit, dass sie alle zusammen sind, wie am Anfang. Aber diese Anordnung ist eben extrem unwahrscheinlich. Also passiert sie nicht. Nach wieder einmal umrühren, stellt sich natürlich eine bestimmte Anordnung ein, eine aus den Abermilliarden. Und jetzt kommt der Punkt: Zum einen ist nach dem Umrühren nicht vorhersagbar, welche Anordnung es ist, siehe das Beispiel mit der Billardkugel. Und auch hier liegt es nicht etwa an einer Meßungenauigkeit, sondern es geht prinzipiell nicht. Zum anderen sehen fast alle der Möglichkeiten so aus, als ob die Milch gleichmässig verteilt ist. Nur einige wenige Ausnahmen geben ein sichtbares Muster (das sind schon auch viele, aber im Verhältnis zu allen eben eine verschwindende Anzahl).
Man kann also guten Gewissens behaupten, durch Umrühren wird sich die Milch nie mehr vom Kaffee trennen. Der Zweig der Physik, der sich Thermodynamik nennt, hat dafür den Begriff der Irreversibilität eingeführt. Er hat nur eine Bedeutung, wenn es um viele Teilchen geht, die man nicht mehr "präzise" berechnen kann, sondern für die nur mehr Wahrscheinlichkeiten gelten. Der entscheidende Denkschritt war, dass solche irreversiblen Prozesse tatsächlich nicht umkehrbar sind. Ohne Zutun von außen, also ohne eine ordnende Kraft, die untrennbar mit dem Verbrauch von Energie verbunden ist, lässt sich ein bestimmter Zustand nicht herstellen. Ein System in einem bestimmten Zustand wird nie mehr einen vorhergegangenen Zustand von selbst einnehmen. Das Maß für die so entstehende "Unordnung" wurde Entropie genannt. Ohne Zutun von außen, nehmen zum Beispiel zwei Substanzen, die sich berühren und die unterschiedliche Temperatur haben, nach einiger Zeit eine gemeinsame Temperatur an. Umkehrbar ist das nicht.
Damit haben die Thermodynamiker etwas über die Zeit gesagt. Bescheiden haben sie die Richtung als 'thermodynamischen Zeitpfeil' bezeichnet, um auszusagen, dass es vielleicht noch andere gäbe. Zerrüttet hat die Physik aber unseren Glauben an eine gleichmässige, über allen Dingen stehende Zeit, die unabhängig von irgendwelchen Gegebenheiten in ewig gleichen Schritten abläuft und die man grundsätzlich auch zurückdrehen kann, wenn sich einmal die Technik besser entwickelt hat. Es wird nicht gehen, prinzipiell nicht, leider.